Welche Schule für morgen ? (Journal 6/2004) Guy Foetz

09.11.2004

Editorial:


Welche Schule für morgen ?



Die Schule hat viel an Kredit verloren: Sie bringt es nicht mehr fertig, den Erfordernissen der modernen Wissensgesellschaft gerecht zu werden, das heißt der großen Masse der Kinder und Jugendlichen die gesellschaftlichen und beruflichen Fähigkeiten zu vermitteln, die sie im Leben brauchen. Die Debatte ist derzeit lebhaft und begreift viele Facetten: Wo liegt die Verantwortung der Schule/des Elternhauses? Soll/kann die Schule überhaupt erziehen? Welcher Zusammenhang besteht zwischen unmotivierten SchülerInnen einerseits und der wirtschaftlichen Lage (Personal - und Ausstattungsmangel der Schulen, Arbeits - und Perspektivlosigkeit für die Jugendlichen) und den gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen (Überflussgesellschaft, Medienrummel, Familienprobleme) andererseits.

Viele LehrerInnen verlieren den Mut vor den schwachen Leistungen ihrer Schüler und verklären die eigene insgesamt gute schulische Vergangenheit, als die Welt noch in Ordnung war, der Lehrer redete und die Schüler brav zuhörten und lernten. Nach vielen Reformversuchen, welche nicht die erwünschten Resultate gebracht haben und angesichts zunehmender Erwartungen, die an die Schule herangetragen werden, macht sich bei vielen LehrerInnen ein defensiver Reflex bemerkbar im Sinne von: “Belastet mich nicht noch mehr! Dafür bin ich nicht zuständig! Erzieht doch selber eure Kinder ! Macht doch mal eure eigenen Hausaufgaben, ihr Schüler, Eltern, Ministerialbeamten ... !“

Die Stimmung ist nicht gerade super, und daran ist das brandneue Autonomiegesetz der Lyzeen, welches den Schulpartnern, darunter im Besonderen den Lehrern wirkliche Mitbestimmungsrechte und -Strukturen verweigert, nicht unschuldig. Es hat jedenfalls das falsche Signal gesetzt: in Richtung Hierarchisierung und Verantwortlichkeit der Schulleiter und gegen die Mitbestimmung und die Zuständigkeitserweiterung der LehrerInnen!

Dennoch - glaube ich - braucht die öffentliche Schule in unserem Land mehr denn je eine grundlegende Reform und es wäre katastrophal, gelänge es nicht, während dieser Legislaturperiode erste entscheidende Schritte in Richtung von mehr Qualität und Chancengleichheit zu machen. Ich glaube auch, dass die meisten LehrerInnen sich bewusst sind, dass die gängige Art und Weise, wie der Unterricht funktioniert, in eine Sackgasse führt und dass wesentliche Änderungen vorgenommen werden müssen, um das Resultat, nämlich den Wissens- und Erfahrungsstandard der Schulabgänger zu heben.

Worin bestehen für mich persönlich nach mehr als 30 Jahren Lehrerfahrung und Beteiligung an manchen Reformprojekten, diese wesentlichen Schritte?

Die Schüler motivieren

Ich gehe davon aus, dass die Kinder am Anfang gerne zur Schule gehen und auch im Laufe ihrer Schulzeit den Spaß am Lernen und Entdecken behalten können, trotz der Mühe, die notwendigerweise mit dem Lernen verbunden ist. Aufbau von Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten durch Frühförderung ist Voraussetzung, damit eine ganze Reihe von Kindern nicht bereits in der Grundschule auf der Strecke bleiben. Das erfordert eine massive Investition in die ersten Schuljahre und beinhaltet mehrere LehrerInnen pro Klasse (Teamteaching), individualisierten Unterricht, Unterstützung bei der Lösung der Wiederholungsaufgaben, resolutes Herangehen an die Sprachenproblematik.

Der handlungsorientierte Unterricht zum eigenen Wissensaufbau und zum Erlernen von Verantwortung und Autonomie sollte sowohl in der Grund- als auch in der Sekundarschule wesentlichen Raum einnehmen, was natürlich ohne eine Reduzierung der Programminhalte (weniger ist mehr!) nicht zu verwirklichen ist. Auch wäre ein Unterricht im 50-Minuten-Takt unter diesen Umständen natürlich absurd. Der handlungsorientierte Unterricht hat den Vorteil, dass die Arbeit der SchülerInnen und der Prozess des Verstehens in der Schule selbst stattfindet; Hausaufgaben sind als Drill-, Wiederholungs- und Syntheseübungen zu sehen.

Ein fakultatives Ganztagsschulangebot ist unumgänglich; schon allein deshalb, weil viele Eltern ihre Kinder tagsüber nicht betreuen können. Privatschulen haben dieses Problem längst erkannt und bieten entsprechende Leistungen an. Fromme Wünsche in Sachen elterliche Verantwortung nutzen den Kindern und Jugendlichen nichts; es gilt dafür zu sorgen, dass die Chancengleichheit gewahrt wird!

Die Autonomie und die Zusammenarbeit der LehrerInnen fördern

Ich gehe ebenfalls davon aus, dass die allermeisten LehrerInnen Freude an ihrem Beruf haben (Drückeberger gibt es überall, damit muss man leben). Allerdings empfinden viele Kolleginnen und Kollegen die Programme zunehmend als erdrückend. Statt allgemeine Zielrichtungen festzulegen, stehen in vielen Fächern Inhalte im Vordergrund; der Lernstoff wird bis ins letzte Detail vorgeschrieben und damit die pädagogische Freiheit untergraben. Umgekehrt werden die detaillierten Programmvorschriften von zahlreichen LehrerInnen oftmals auch als Entschuldigung gebraucht, um keine Verantwortung in Sachen Programmgestaltung zu übernehmen, trotz offensichtlicher Überlastung ihrer SchülerInnen. Beim PISA-Klassenersten Finnland reduziert sich der Lehrplan durchwegs auf wenige Lernziele, die von den jeweiligen LehrerInnen individuell umgesetzt werden, allerdings in Absprache und Zusammenarbeit mit den KollegInnen.

Die Erweiterung der pädagogischen Freiheit durch weniger strikte Richtlinien in der Form allgemeiner Lernziele, zusammen mit einer Schulung der LehrerInnen im Umsetzen von Lernzielen, der Förderung der kollegialen Zusammenarbeit und dem Ausbau der Programmkommissionen zu wirklichen Arbeitsorganen
sind für mich entscheidende Reformpunkte für die Zukunft.

Es gilt dementsprechend, in den Schulgebäuden Strukturen zu schaffen, die es den LehrerInnen erlauben, zusammenzuarbeiten. Eine Erweiterung der LehrerInnenpräsenz in der Schule setzt für jeden einen gut ausgerüsteten Arbeitsplatz zur Vorbereitung des Unterrichts voraus. Die Schulgebäude, welche sich momentan im Bau befinden, sehen allerdings solche Räumlichkeiten nicht vor.

Ein heißes Eisen sind interne und externe Kontrollmechanismen, was die Umsetzung der Programme und die Unterrichtsqualität anbelangt; sie sind im neuen Autonomiegesetz vorgesehen und sollten mit den LehrerInnen, sowie den Eltern und Schülern zusammen gestaltet werden.

Das Bewertungssystem grundlegend reformieren

Meines Erachtens misst das luxemburgische Schulsystem der sommativen Bewertung zuviel Gewicht und Zeit zu, was auch die LehrerInnen in einem nicht vertretbaren Maße belastet. Mit dem 60-Punkte-System wird eine Objektivität vorgetäuscht, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Einziger Dreh- und Angelpunkt scheint die Versetzung in die nächste Klasse, was letztendlich bewirkt, dass die Schüler nur für Punkte arbeiten. Dabei wird das wesentliche Ziel der Bewertung vernachlässigt, nämlich das Können und Wissen der Prüflinge zu verbessern.

Mir schwebt insbesondere eine Förderung der formativen Bewertung vor: in entscheidenden Bereichen sollten durch konsequente Fehleranalyse die Probleme der SchülerInnen diagnostiziert werden, bevor eine Prüfung, die “zählt”, abgehalten wird. Gleichzeitig kann der Lehrer so seine eigenen Schwächen bei der Vermittlung des Unterrichtsstoffes erkennen und rechtzeitig reagieren.

Die eben gemachten Reformvorschläge ziehen weitere Veränderungen nach sich; diese weiter zu entwickeln würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.

Der neu geschaffenen Universität fällt die entscheidende Rolle zu, die LehrerInnen aus- und weiterzubilden, sowie endlich die notwendige Forschungsarbeit im Bereich unseres Bildungswesens zu leisten. Das Unterrichtsministerium ist gefordert, die entsprechenden Forschungsprojekte in Auftrag zu geben, besonders was den Sprachenunterricht betrifft.

Vieles ist momentan im Fluss; viele Kolleginnen und Kollegen haben bestimmt eine ganze Reihe von Vorschlägen zu machen, hätten sie dazu die Gelegenheit. Ich glaube, es ist an der Zeit, die Diskussion über die Zukunft unseres Schulwesens in den Schulen selbst anzukurbeln: Meiner Meinung nach besteht das Bedürfnis, aus der Sackgasse, in der wir uns momentan befinden, herauszukommen. Zahlreiche neue LehrerInnen sind in den letzten 5 Jahren in den Dienst der öffentlichen Schule getreten; viele werden noch innerhalb dieses Jahrzehnts hinzukommen, so dass in Anbetracht der massiven Pensionsabgänge innerhalb kurzer Zeit mindestens 1/3 des bestehenden Lehrerkollegiums ausgewechselt wird. Diese Situation ist einmalig interessant; es muss gelingen, die Energie und Phantasie der « Neuen » zu mobilisieren.

Die Politik und die Lehrergewerkschaften sind gefordert, die öffentliche Schule unseres Landes für das 21. Jahrhundert fit zu machen


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Guy Foetz
Vice-président du SEW