SEW/OGBL denkt über bildungspolitische Zukunft nach: "Wir sollten den Kindern mehr Zeit lassen" (Alex Fohl (tageblatt: 22/5/2008))

04.07.2008

Im Vorfeld der heutigen OGBL-Bildungstagung „Investir dans une politique d'éducation et de formation offensive“ unterhielten wir uns mit der SEW-Syndikatsleitung über den Stellenwert von internationalen Schüler- vergleichsstudien und die Herausforderungen einer zukunftsweisenden Bildungspolitik

Tageblatt: Welche Erwartungen knüpfen Sie an das Bildungskolloquium, bei dem es u.a. um den Stellenwert von internationalen Vergleichstudien vor dem Hintergrund geplanter Bildungsreformen geht?

Guy Foetz: „In letzter Zeit haben wir auf Gewerkschaftsebene viel über PISA und Pirls gesprochen. Eine Reihe von Befunden, die hier mit Zahlenmaterial belegt wurden, waren vorher bereits bekannt. 1998 haben wir als Gewerkschaft darauf reagiert. Der OGBL hat ein Positionspapier über die Situation der Luxemburger Schule und einen entsprechenden Forderungskatalog präsentiert. Mit dem Kolloquium wollen wir u.a. eine Reihe von Dingen in Frage stellen, die bei PISA in den Vordergrund gerückt und stark mediatisiert worden sind, während andere, langjährige Probleme dabei in den Hintergrund geraten. Die verschiedenen Regierungen werden in gewisser Weise von den PISA-Ergebnissen beeinflusst und reagieren unmittelbar darauf.“

„T“: Können Sie ein Beispiel dafür geben?

G.F.: „Frau Delvaux hat beispielsweise darauf reagiert, indem sie auf Sekundarschulebene bessere Ergebnisse im Bereich der Chemie und Physik anstrebt. Im Vordergrund steht das Ergebnis und die Platzierung beim PISA-Test, und nicht so sehr eine langfristige Überlegung. Eines der Ziele dieses Kolloquiums besteht darin, Derartiges zu hinterfragen. Was steckt hinter PISA? Was wird damit bezweckt? Immerhin steht die OCDE dahinter.“

Monique Adam: „PISA erstellt ein Ranking der Länder und Schulsysteme. Das müssen wir wirklich in Frage stellen, weil wir Bedenken haben, ob die Situation des Luxemburger Schulsystems richtig eingeschätzt wird. Bei uns werden Kinder in zwei Sprachen unterrichtet, die größtenteils weder ihre Mutter- noch ihre Kommunikationssprache sind. Auf diese Situation wird keine Rücksicht genommen. Hinzu kommt der starke Migrationshintergrund. Hier muss also gefragt werden, ob nicht Äpfel mit Birnen verglichen werden.“

„T“: PISA und Pirls haben Probleme aufgezeigt, die längst bekannt sind. Sollte man die Teilnahme an solchen Studien nicht aussetzen, weil sie die gewonnenen Erkenntnisse nur bestätigen und viel Zeit und Energie in Anspruch nehmen, die sinnvoll für den Reformprozess genutzt werden könnten.

G.F.: „Ich denke, das können wir nicht. Die Studien sind ja nicht negativ. Es werden auch richtige Schlussfolgerungen gezogen. Sie müssen nur in den richtigen Kontext gesetzt werden. Auch das ist Ziel der OGBLBildungstagung.“

„T“: Doch was bringt eine weitere PISA-Studie?

M.A.: „So viel eigentlich nicht. Wir testen uns beinahe zu Tode. In England haben sie inzwischen herausgefunden, dass sie dabei sind, ihre Schulen kaputtzumachen. England war Champion in Sachen Schülervergleichsstudien. Inzwischen wurde festgestellt, dass Schulen im Grunde nur noch aufs 'Teaching to the test' ausgerichtet sind und sehr oberflächlich gelernt wird. Auch wir müssen aufpassen, dass wir aus den Studien nicht die Schlussfolgerung ziehen, Schüler nur dahingehend zu prüfen. Kurzfristige Reaktionen, in diesem und jenem Fach eine Stunde mehr einzuführen, greifen sicherlich zu kurz.“

G.F.: „Positiv daran ist, dass die PISA-Diskussion das Problembewusstsein geschärft hat. Aus gewerkschaftlicher Sicht müssen wir auf die fehlende Chancengleichheit hinweisen. Kurzfristige, mediatisierte Maßnahmen helfen da nicht. Wir brauchen eine langfristige Planung, wie Reformen umzusetzen sind.“

M.A.: „Unsere Schule dient nicht mehr als Instrument des sozialen Aufstiegs. Diese Funktion hat sie eingebüßt. Vor 20, 30 Jahren hat die Schule diese Rolle noch erfüllt. Es gelingt nicht mehr, Kindern mit Migrationshintergrund und aus sozial schwachen Schichten zu einer besseren Ausbildung zu verhelfen. Doch ökonomisch und auch sonst ist dies eine absolute Notwendigkeit. Denn heutzutage wird sehr viel Wissen vorausgesetzt, um sich auf dem Arbeitsmarkt und als 'normaler' Bürger behaupten zu können. „Die Schule kann nicht alle Probleme lösen“ Die Schule kann nicht alle gesellschaftlichen Probleme lösen; doch eigentlich müsste sie mehr tun als bislang. Bereits 1998 haben wir gefordert, die öffentliche Schule durch eine vernünftige Einstellungspolitik und zusätzliche Infrastrukturen zu verbessern. Wir haben auf wissenschaftliche Forschung gepocht und darauf gedrängt, die Sprachensituation ernsthaft anzugehen. Handlungsbedarf gibt es auch bei der peri- und paraschulischen Betreuung. Das gehört unter einen Hut. Nach wie vor teilen sich zwei Ministerien die Kompetenzen. Es gibt einige Ansätze, beides zusammenzulegen: die Jean-Jaurès-Schule, 'Eis Schoul', das 'Neie Lycée', wo integrierte Strukturen funktionieren. Leider betrifft dies nur sehr wenige Schüler. Hier müssen Modelle gefunden werden, damit größere Schulpopulationen davon profitieren können.“

„T“: Sie haben Reformansätze angesprochen. Nehmen wir die Regierungsvorschläge zur Neuordnung des Sprachenunterrichts. Was halten Sie davon?

M.A.: „Da gibt es eine große Fülle an Vorschlägen. Bislang wurde das Ei des Kolumbus noch nicht gefunden. Sicherlich gibt es eine Kurskorrektur. Sprachen sollen weniger als Auslesefaktor genutzt werden. Dafür sollen Sprachkompetenzen und -kenntnisse stärker berücksichtigt werden. Dennoch bleibt trotz verstärkter Differenzierung eine objektive Schwierigkeit. Auch wenn verschiedene Kompetenzniveaus in den beiden Sprachen vorausgesetzt werden, müssen wir im Blick haben, dass Deutsch und Französisch Unterrichtssprachen sind. Ein Kind mit reellen Problemen in Deutsch hat ein klares Handicap. Romanophone Kinder bleiben in unserem Schulsystem am meisten benachteiligt, weil Deutsch bereits auf Primärschulebene eine Unterrichtssprache ist. Bei Geografie, Geschichte und naturwissenschaftlichen Fächern haben die Schüler bereits in der 5. Klasse aufgrund mangelhafter Sprachkenntnisse ernsthafte Probleme. Auf Sekundarschulniveau verschärft sich das Problem noch.“

G.F.: „Das beginnt bereits in Kindertagesstätten und in der Früherziehung mit der Frage, wie Kinder aufzubauen sind, die die familiäre Unterstützung nicht haben. Hier gibt es je nach Einrichtung und Kommune sehr unterschiedliche Bedingungen. Oft gibt es das Früherziehungsangebot nur stundenweise. Dabei sollte die Früherziehung über eine Ganztagsstruktur verfügen und mit Betreuern arbeiten, die eine ordentliche Ausbildung haben. Was am Anfang mit Kindern passiert, wo die Grundlage für die weitere Entwicklung gelegt wird, ist sehr oft entscheidend. Kommunen muss hier geholfen werden, ganztägige Strukturen aufzubauen.“

M.A.: „Man muss auch fragen, ob sich ein Schulsystem, das auf zwei Unterrichtssprachen aufbaut, nicht mehr Zeit lassen sollte. Wer mehr Sprachen will, muss mehr Zeit zum Lernen einplanen.“

„T“: Was halten Sie von einer deutsch- und einer französischsprachigen Einschulung?

G.F.: „Das würde die Gesellschaft noch stärker in zwei Lager spalten. Für uns ist das keine Option.“

M.A.: „Zumindest nicht auf Grundschulniveau.“

G.F.: „In der Berufsausbildung sollte es schon deutsch- und französischsprachige Lehrgänge geben. In verschiedenen Berufen sind Sprachen eigentlich nur zweitrangig.“

„T“: Nun hat die portugiesische Sprachgemeinschaft mit dem Projekt einer portugiesischen Privatschule für Gesprächsstoff gesorgt. Wäre das für Sie eine Alternative, die Sinn macht?

M.A.: „Hier muss genau auf den Lehrplan geschaut werden. Wird das portugiesische Schulprogramm gelehrt oder das luxemburgische oder gibt es eine Zwischenlösung? Das ist die Frage. Sollen sich die Schüler in Luxemburg integrieren oder zurück nach Portugal gehen können?“

„T“: Darüber hinaus stellt sich aber auch die prinzipielle Frage nach der Einheit der öffentlichen Schule in Luxemburg?

M.A.: „Die wurde mit dem Privatschulgesetz aufgebrochen. Nun kann man der portugiesischen Sprachgemeinschaft nicht verwehren, was man anderen erlaubt. Hier wurde ein großer Fehler gemacht. Wir waren gegen das Privatschulgesetz, das die öffentliche Schule untergräbt. 1998 haben wir gesagt, wir müssen in die öffentliche Schule investieren und sie effizient gestalten. Es ist wesentlich einfacher, eine Schule für kleine Gemeinschaften mit spezifischen Bedürfnissen einzurichten. Wir brauchen aber eine gute öffentliche Schule, die alle Kinder aufnimmt. Wir sollten auch weniger auf Schulnischen innerhalb der öffentlichen Schule setzen. Auf Primärschulniveau ist es ungemein wichtig, alle Kinder zusammenzuhalten. Darin liegt die große Herausforderung einer mehrsprachigen und multikulturellen Gesellschaft. Wir müssen zusammenführen und nicht die Schule auseinanderdriften lassen.“

G.F.: „Hier stellt sich auch die Frage, ob nicht jeder eine Extrawurst bekommt. Es gibt die Pilotschule 'Neie Lycée', das Schengen-Lyzeum in Perl, 'Eis Schoul'. Jeder bekommt seine eigene Spielwiese, anstatt eine einheitliche starke öffentliche Schule zu fördern.“

„T“: Prinzipieller Natur ist auch die Frage nach der künftigen Rolle des Lehrers im Luxemburger Schulsystem.

M.A.: „Lehrer können sich nicht mehr so stark an festen Vorgaben und fertigen Unterrichtskonzepten orientieren. Sie müssen viel stärker auf die Bedürfnisse einer vielfältigen Schulpopulation eingehen. Der Lehrer muss sein Programm so organisieren, dass gemeinsames Lernen einerseits und differenziertes Unterrichten andererseits ermöglicht wird. Wichtig ist auch, dass Schüler voneinander lernen. Eine große Herausforderung besteht nicht zuletzt darin, in Teams zu arbeiten. Die Zeit der Einzelkämpfer ist vorbei. Hinzu kommt, dass zu viel von Kindern gefordert wird. Sie werden unheimlich unter Druck gesetzt. Wir erleben es tagtäglich. Das schlechte Schulklima, das in der Pirls-Studie angemahnt wird, deutet darauf hin. Wir stressen unsere Kinder. Wir tun das gleich in zwei Sprachen bis in die fünfte Klasse. Irgendwann geht Schülern die Lust aus. Wir sollten den Kindern mehr Zeit lassen.“