Neie Lycée - das erste Jahr (Journal 5/2006) Interview mit Guy Wagner

06.05.2006

Neie Lycée - das erste Jahr


Das Interview mit Guy Wagner (Mitglied des „Comité de pilotage“ und Mathematiklehrer) wurde am 10 Juli 2006 im „Neie Lycée“ aufgenommen.



Claude Simon: Wie ist die Stimmung im „Neie Lycée“ nach dem ersten Jahr?

Guy Wagner (G.W.):
Wir sind müde. Das überrascht uns nicht. Alles musste neu entwickelt und geplant werden. Es stellten sich uns jede Menge organisatorische Fragen. Doch wir sind keineswegs niedergeschlagen. Jeden Tag haben meine Kollegen neue Einfälle, um das Konzept „Neie Lycée“ weiterzuentwickeln.

C.S.: Wie habt ihr die öffentliche Diskussion um das Politikum „Neie Lycee“ erlebt?

G.W.
: Ich bin froh, dass sich die ganze Aufregung um unser Projekt etwas gelegt hat. Die Situation war sehr belastend. Die Kollegen unterstellten uns Arroganz, „wir hätten nun die neue Schule erfunden, die Schule der Zukunft“. Wir denken, wir würden lediglich an einer anderen, einer weiteren Art der Schule arbeiten. Wir überprüfen unser Konzept, ein „lycée-pilote“. Wir hoffen, dass dieser Versuch die Diskussion unter den Schulpädagogen bereichert, dass sich neue Initiativen bilden und dass eine positive Dynamik in der luxemburgischen Schule entsteht. Ich denke, wir konnten manche Vorurteile gegenüber unserem Schulprojekt aus dem Weg räumen. Man durfte feststellen, das „Neie Lycee“ ist keine „Zirkusschule“. Wir sind auch keine Wunderschule. Wir haben jedenfalls nicht alle Lösung für jede Schulschwierigkeit, die besorgte Eltern an uns herantragen. Unser Experiment wird realistischer eingeschätzt.

C.S.: Hattet ihr schon Besuch von der früheren Ministerin Anne Brasseur, die dem Projekt ja skeptisch gegenüber steht?

G.W.
: Ich weiß nicht, wie Anne Brasseur sich mit unserem Projekt auseinandergesetzt hat, im „Neie Lycee“ war sie jedenfalls noch nicht.

C.S.: Sind eure Erwartungen erfüllt worden?

G.W.
: Ich denke, wir haben viel erreicht. Global wurden meine Erwartungen erfüllt. 9 von 10, wenn Sie wollen.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. Letzten Freitag haben die Schüler ihre Projekte den Klassenkameraden vorgestellt. Sie konnten sich frei in der Schule bewegen und dies hat ohne Schwierigkeiten geklappt.
Die Schüler waren interessiert an den Arbeiten ihrer Klassenkameraden. Anschließend haben wir zusammen gegrillt. Das Aufräumen war überhaupt kein Problem, die Schüler verhielten sich weitgehend respektvoll gegenüber den Einrichtungen. Wir haben immer weniger Probleme mit der Disziplin.
Auch in schulischer Hinsicht haben wir Fortschritte zu verzeichnen. Seit die Schüler ihre 5 Hausaufgabeneinheiten, über die Woche verteilt, frei festlegen dürfen, läuft das selbstbestimmte Arbeiten bei den meisten besser. Es hat sich ein positiveres Lernklima entwickelt.

C.S.: Was haben Sie, als Lehrer, in diesem ersten Jahr gelernt?

G.W.:
Viele Wege können zum Ziel führen. Die Zusammenarbeit unter uns Lehrer wurde im Laufe des Jahres noch besser, der Erfahrungsaustausch ist sehr offen und ehrlich.

C.S.: Zum Thema „Bewertung“. Ihr verzichtet auf Noten. Wie sieht jetzt die Bewertung ohne Noten konkret aus?

G.W.
: Die Schüler werden kontinuierlich beobachtet.
Wir sehen den Schüler nicht nur durch das Prisma von bestimmten Prüfungen oder den Arbeiten, die im Portofolio zusammengetragen werden. Jede Woche muss sich der Lehrer fragen, was tut mein Schüler, wo steht er. In zwei Arbeitsstunden setzt das Lehrerkollegium sich wöchentlich mit den Schülern auseinander. Diese Gespräche erlauben uns auch, an den eigenen Vorurteilen einzelnen Schülern gegenüber zu arbeiten.
Die rein schulische Evaluation wird in den beschreibenden Zensuren am Ende jedes Trimesters zusammengetragen und soll die Entwicklung des Schülers wiederspiegeln. Selbstverständlich wird auch jede einzelne Arbeit bewertet. Wir mussten in diesem ersten Jahr allerdings feststellen, dass wir den Schüler mit diesen Bewertungen oft zu spät konfrontierten. So konnten sie nicht die wichtige Rolle spielen, die ihnen im Lernprozess zugedacht sind.

C.S.: Welche Mittel habt ihr euch gegeben, um eure eigene Arbeit zu bewerten?

G.W.
: Die Lehrer treffen sich und tauschen sich aus, in der Art: was machst du? wie gehst du vor? Den fachspezifischen Austausch unter den Lehrern wollen wir allerdings nächstes Jahr noch intensivieren und wir werden zu diesem Zweck auch unsere Vorbereitungszeiten (12 Arbeitsstunden) flexibilisieren. In jedem Lehrerteam sind ebenfalls Sozialpädagogen eingebunden, mit denen wir in einer anderen Art über unsere Arbeit sprechen.
Baudouin Jurdant, Professor an der Universität Paris VII setzt sich mit der ganzen Lehrerschaft regelmäßig zusammen und wir besprechen einzelne Aspekte des Projektes. Die Themen, wie Sprachenunterricht, Prüfungen oder Disziplin werden von uns Lehrern festgelegt.
Der Blick von außen, die Auseinandersetzung mit Fachleuten, die unser Projekt aufmerksam verfolgen, erlaubt uns eine tiefgründige Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit.
Dann begleitet die „Uni Letzebuerg“ unser Projekt.
Die Entwicklung der Basisqualifikationen werden untersucht, was indirekt auch Rückschlüsse über unsere Arbeit zulässt.
Und das CEIP (comité d'évaluation et d'innovation pédagogique, bestehend aus Vertretern von Universitäten, Vertretern des luxemburgischen Unterrichtswesen sowie der Berufswelt) hat mit uns zweimal die globale Richtung des Projektes besprochen.

C.S.: Gibt es einen externen Blick auf den Schulalltag?

G.W.
: Der Direktor hat natürlich das Recht, sich anzuschauen, was in den Klassen geschieht. Im Neie Lycee haben wir noch zusätzlich die „groupe de préparation“, bestehend aus der Direktion sowie Vertretern der Lehrer und der Erzieher, der ebenfalls reagiert, wenn ihr Schwierigkeiten zugetragen werden.
Ich möchte jedoch auf die Gefahren aufmerksam machen, die von detaillierten Analysen ausgehen können.
Zum einen beschreiben die Einzelheiten nicht den gesamten Prozess, zum anderen läuft man Gefahr bei einer vorzeitigen Bewertung stehen zu bleiben.
Meiner Meinung nach bringt uns vor allem der kontinuierliche Austausch unter den Lehrer wirklich weiter und wird so zum einem Qualitätsgaranten.

C.S.: Ich möchte sehr gern mit Ihnen einige Instrumente des „Neie Lycee“ besprechen.
Zum Beispiel: wie hat sich das Tutorat bewährt?
G.W.
: Die Funktion des „Tutor“ wird von den Schülern allgemein angenommen und sie wird von den Eltern geschätzt. Mit dieser Person kann man direkt Probleme ansprechen und frühzeitig Konflikte entschärfen.
Wir haben in diesem ersten Jahr keinen krassen Konflikt erlebt.

C.S.: Das « Journal de bord ».

G.W.
: Allgemein kann ich behaupten, dass das Tagebuch von den Schülern gut angenommen wurde. An Hand des Tagebuches kann man sehr gut die individuelle Initiativfreudigkeit ablesen.
Nur hat der Teil Selbstevaluation nicht so gut funktioniert.
Die Schüler sind doch wenig selbstkritisch.

C.S.: Das Portofolio.

G.W.
: Das Portofolio ist lediglich ein Ordner in dem bewertete Arbeiten der Schüler archiviert werden. Das Portofolio gibt sehr wohl einen Einblick in die Qualität der geleisteten Arbeit.

C.S.: Im dritten Trimester haben die Schüler an einem Buch gearbeitet. Was hat es mit diesem Buch auf sich?

G.W.
: Dieses Buch ist eine Arbeit der ganzen Klasse und stellt in etwa die Synthese der aufgearbeiteten Stoffe der beiden ersten Trimestern dar. Diese Synthese wird von den Schülern in Form kurzer Aufsätze zusammengestellt und in deutscher und französischer Sprache verfasst. Nächstes Jahr sollen ebenfalls persönliche Arbeiten in dieses Buch einfließen und wir wollen die Arbeit am Buch über das ganze Jahr verteilen.

C.S.: Haben die Schüler sich auf diese „Übung“ eingelassen?

G.W.:
Die Schüler haben diese „Wiederholung“ sehr wohl akzeptiert. Das Buch ließ ein viel strukturierteres Arbeiten zu. Außerdem rundete das Buch die geleistete Arbeit ab, es gab ihr einen Sinn.

C.S.: Gruppenarbeit.

G.W.
: Die Entwicklung ist eindeutig, die Qualität der Zusammenarbeit hat sich verbessert. Diese Feststellung wird allgemein, von den Schülern und von den Kollegen geteilt, auch wenn immer noch einige Schüler mit bestimmten Klassenkameraden nicht zusammenarbeiten wollen. Im Laufe des Schuljahres haben wir den Schülern freigestellt, wie sie ihre Hausarbeiten études organisieren möchten und dies hat sicherlich ebenfalls dazu beigetragen, die Bedingungen der Gruppenarbeit zu verbessern.
Das Arbeitsklima hat sich verbessert, es wird in den Klassen intensiver und entspannter gearbeitet. Die Schüler wurden initiativfreudiger

C.S.: Zieht ihr das Schulumfeld in den Unterricht ein?

G.W.:
Nicht genug. So möchten wir nächstes Jahr öfter Außenstehende in den Unterricht einladen. Dieses Jahr haben wir auch nur wenige Ausflüge gemacht, weil uns oft nicht genug Zeit für die Organisation blieb.

C.S.: Wie wirkt sich die Arbeit mit dem Katalog der Basiskompetenzen auf euren Alltag aus?

G.W.
: Diese größere pädagogische Freiheit bedeutete eine Menge Arbeit. Wir Lehrer hatten keine Erfahrung, uns fehlte die Routine. Doch bin ich zuversichtlich, dass der größere Arbeitsaufwand auf ein normales Pensum zurückgehen wird. Die Bewertungen der Schülerarbeiten machten uns zum Beispiel sehr viel Mühe. Ich werde jedoch in Zukunft die Schüler mit Hilfe von Stichworten regelmäßig beschreiben, so dass ich mich auf diese Notizen aus dem Schulalltag für die Zensuren stützen kann.

C.S.: Strafen oder Gespräche bei Regelverstöße?

G.W.
: Es werden auch im Neie Lycee Strafen vergeben.
Doch wir suchen grundsätzlich das Gespräch mit den Schülern. Wir denken, dass die Schwierigkeiten der Schüler im Umgang mit der Schule auch eine Chance darstellen, sich weiterzuentwickeln. Nach den erst Monaten hat sich die Disziplin in der Schule deutlich verbessert. Unsere Aufgabe besteht darin, die Schüler zu lehren, mit den Freiheiten im „Neie Lycee“ umzugehen.

C.S.: Ihr habt euch die Leitlinien „Respekt, Toleranz und Verantwortung„ gegeben. Wie habt ihr diese Leitlinien im schulischen Alltag umgesetzt?

G.W.
: Diese Leitlinien wurden in einer Charta von Schülern, Lehrern und Eltern verfeinert. Sie spiegeln sich in der konzeptuellen Ausrichtung des „Neie Lycee“ wieder und sollen selbstverständlich im pädagogischen Alltag angewandt werden.
Auf viele Fragen gibt es nicht nur eine Antwort. Wir versuchen heraus zu finden was geht und dies soll im Sinne unserer Charta geschehen.

Zwei größere Weiterentwicklungen haben sich aus den Erfahrungen des ersten Jahres ergeben:

  • Nur noch ein globales Thema soll jeweils von einem "Team" behandelt werden. Dies soll Lehrern und Schülern erlauben intensiver an den einzelnen Schüleraufgaben zu arbeiten, um so deren Qualität zu verbessern.
  • Außerdem erhält jeder Schüler ein Klassenbuch. Dieses Buch soll die Kommunikation mit den Eltern verbessern. Die Eltern können im Idealfall den Werdegang ihres Kindes im Alltag verfolgen.