Ist eine pädagogisierte Ganztagserziehung Kindern zumutbar?

30.10.2011

Verschulung versus Kinderrechte.



In Ausführung des Grundschulgesetzes vom 6. Februar 2009, Artikel 16, betr. die außerschulische Kinderbetreuung, bemüht sich das Unterrichtsministerium nun, die Restfreizeit der Kinder zu reglementieren und zu organisieren. Das Spagat zwischen Unterrichts- und Familienministerium, welches bis jetzt die absolute Hoheit über dieses äußerst sensible, für die öffentliche Hand teure, für einige Privatanbieter lukrative, weil konventionierte Angebot, kann nur auf Kosten der wahren Bedürfnisse der Kinder gehen, umso mehr da auch bis jetzt fast ausschließlich in Bezug auf Familieninteressen und –organisation argumentiert wurde. So betreffen die bestehenden Gesetze und Reglemente auch hauptsächlich Fragen der Organisation und der Kosten, recht wenig solche der Qualität und Kindertauglichkeit. Es sieht so aus, als ob Lehrerinnen und Erzieherinnen zu weiterer Mehrarbeit im Sinne von administrativem Kram verpflichtet werden sollen, um gemeinsame pädagogische Maßnahmen auszuklügeln, welche dazu geeignet sind, eine optimale Förderung der, aus Sicht der Schule, wichtigen Kompetenzen unserer Kinder abzusichern. Dabei geht es hauptsächlich um Organisation, Verordnungen, Verpflichtungen, bestenfalls um pädagogisches Flickwerk, um schulische Defizite jeglicher Art auszubügeln.

Und wieder einmal macht sich unser Staat strafbar, weil er das Kind in der Ganzheit seiner Persönlichkeit nicht wahr nimmt, und sein Recht auf Spiel, Freizeit und Ruhe (siehe UN- Kinderrechtskonvention, auch von Luxemburg ratifiziert!) grundsätzlich verletzt. Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang echte Zweifel zu äußern, ob die Verantwortlichen solchen pädagogischen Übereifers, verblendet und befangen durch den ökonomisch orientierten PISA- Druck überhaupt die UN- Konvention über die Rechte der Kinder und insbesondere ihr Herzstück, Artikel 3, gelesen und verstanden haben: „Das Wohl des Kindes ist ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“

Bildung ist mehr als Schule.



Was gehört zum Wohl des Kindes? Dazu gehört sicher auch das Recht auf Bildung, aber bitte, nicht nur schulische, verpädagogisierte!

Erkenntnisse aus der Kinderforschung zeigen immer deutlicher in dieselbe Richtung: Bildung ist mehr (teilweise auch anders!) als Schule!

Remo H. Largo („Lernen geht anders“) behauptet, dass jedes Kind lernen will, aber nur, wenn folgende Bedingungen stimmen: „Kinder wollen Erfahrungen machen, lustvoll und freiwillig, aber nur wenn sie auf Grund ihrer Entwicklung das Bedürfnis danach haben und es selbstbestimmt tun dürfen.“

Sogar die schon erwähnte, von wirtschaftlichen Interessen geprägte PISA- Studie legt eine Engführung der öffentlichen Debatte auf fast ausschließlich schulpolitische Maßnahmen nicht nahe. Im Gegenteil: Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsfähigkeit bzw. Bildungserfolg gilt als eine der wichtigsten Erkenntnisse und wird so zu einer zentralen Herausforderung.

Die Schulpädagogik hat es seit ihrem Bestehen nur sehr bedingt geschafft, mehr Chancengerechtigkeit zu schaffen und sie wird es auch in Zukunft auf jeden Fall nicht allein schaffen. Sie hat bestehende Differenzen, von Ausnahmefällen abgesehen, gefestigt. Auch ausgeklügelte und überdrehte bildungspolitische Grabenkämpfe in Form von Vergleichen zwischen Staaten, Schulen, Lehrerinnen, in welche möglicherweise auch noch die außerschulischen Angebote mit einbezogen werden sollen, werden, genau so wie wir es von den übermächtigen Rating- Agenturen und der Börse her kennen, keine nachhaltige positive Entwicklung ergeben und schon gar nicht zum eigentlichen Wohle des Kindes beitragen.

Informelle Bildung, eine gesellschaftspolitische Herauforderung.



Würde das Kind und sein Wohlergehen, der Politik wirklich am Herzen liegen, müsste radikal umgedacht werden, und anstatt von Kosten müsste ein klares Signal in Richtung Zukunftsinvestition gesetzt werden, aber nicht im Sinne von materiellem Mehrwert, sondern von gesellschaftlichem Zusammenhalt, persönlicher Entwicklung und demokratischer Mitbestimmung. Anstatt ein unmögliches und kontraproduktives politisches Spagat zwischen verschiedenen Interessegruppen weiterzuführen, wäre es angebracht über eine neue Form von Kinderministerum nachzudenken, welches das Kind als Ganzes, mit seinen Interessen und Bedürfnissen wahr nimmt, gesamtgesellschaftlich, schulisch und außerschulisch, und somit auch seinem fundamentalen legitimen Anspruch auf informelle und kulturelle Bildung gerecht wird.

Das spezifische Profil außerschulischer Bildung, sowie die Chance junge Menschen in ihrem Sozialisationsund Bildungsprozess zu erreichen zu begleiten und zu unterstützen liegt in ihrer Differenz zu den formalisierten schulischen Angeboten. Der flächendeckende und qualitative Ausbau der Ganztagsbetreuung losgelöst von der Methodik der Institution Schule könnte ein probates Mittel sein, der Bildungsmisere wirksam zu begegnen. Dazu brauchen wir aber eine neue Wahrnehmung dieses Angebotes, die sich entfernen müsste von komplizierten technischen Konventionen, welche eigentlich auf eine schleichende Privatisierung ausgerichtet sind (siehe den Boom von Privatinstitutionen, ein anscheinend sehr lukratives Geschäft, sowie die Übertragung von öffentlicher Verantwortung an Privatträger), so wie von einer überstürzten Einführung von „Chèques-service“, welche als Wahlgeschenk sowohl Eltern als Kindern eine absolut nötige Flexibilität in punkto Einschreibungsfrequenzen zunichte gemacht haben.

Das Kind im Mittelpunkt.



Längeres Verweilen in der Schule, lies Ganztagsschule, und/ oder bloße Betreuung in den Foyers scolaires / maisons relais als Auffangbecken für aus dem gesellschaftlichen Wandel entstandene familiäre Arrangements bedeuten noch längst keine höhere Qualität an Bildung und sind auch nicht primär im Interesse des Kindes. Außerschulische Bildung erhält nur einen Sinn, wenn sie von der Schulpädagogik, welche eigene und sicher notwendige Ziele anstrebt, von Raum und Methode her abgekoppelt ist.

Außerschulisches Lernen basiert auf einer Orientierung der Bildungsinhalte an den Lebens-, Spiel- und Alltagswelten der Kinder. Nur die lebendige, spielerische Auseinandersetzung an authentischen oder frei gestalteten Lernorten außerhalb des Klassenzimmers, sowie eine breit angelegte Förderung zum Wohle des Kindes unter Berücksichtigung seiner Bedürfnisse nach Bewegung und Erholung, nach Erfahrungen im Umgang mit Freiheit, sozialen Kontakten und Sinneserlebnissen, können eine Antwort sein auf Defizite in seiner Erfahrungswelt, die da heißen: Verlust an Realitätsbezug durch Medienkonsum, Mangel an Praxisbezug durch Vereinzelung und Verinselung, Abkopplung von Natur und Umwelt, einseitige und übertriebene Betonung kognitiver Lernleistungen. Astrid Lindgren, immerhin „Mutter“ der aufmüpfigen und besonders von Kindern viel bewunderten Pipi Langstrumpf, spricht in ihren Memoiren von der wundervollen, ausgiebigen Freiheit, die sie beim Spielen genoss, trotz der extrem autoritären und einengenden Erziehung ihrer Zeit.

Enterbt die zunehmende Pädagogisierung ihres Alltags und schlimmer noch, die schleichende Technologisierung des kindlichen Lernprozesses durch groteske Formen von Bewertung und permanente, kodifizierte Beobachtung, unsere Kinder nicht der Chance, diese spielerischen Freiheiten in zwanglosem Umfeld, von denen Astrid Lindgren spricht, zur Entwicklung ihrer Persönlichkeit zu nutzen?

Statt immer wieder neuer Vorschriften und Zwänge ist es sicher sinnvoller, das Kind mit seinen wahren Bedürfnissen ernst zu nehmen, ihm wohlwollende Aufmerksamkeit zu widmen, ihm zu zuhören und ihm Freiräume und Freizeiten zu sichern, damit es seine Persönlichkeit gestaltend und selbstbestimmt entwickeln kann. In diesem Sinne kann und darf das außerschulische Bildungsangebot kein verlängerter Arm der Schule sein!

Informelles Lernen geschieht über das aktive Gestalten und Erleben alltäglicher Rituale, durch bewusste Erfahrungen mit anderen Kindern und Erwachsenen, beim Spielen und Tollen, durch die gelebte Auseinandersetzung mit Erzieherinnen und Erziehern, durch Zusammenleben mit Gleich- und Andersaltrigen in Alltagssituationen, durch Phasen und Zonen, welche Bewegung, Beobachtung, Erforschen, Spiel und Erholung ohne Zwang ermöglichen und fördern.

„Wir unterweisen das Kind seit Jahrhunderten mit unterschiedlichen Vorstellungen, beim Kind selbst sind wir immer noch nicht angekommen.“ (R.H.Largo,“ Lernen geht anders“,2010)

Aloyse Ramponi
Membre du Comité Fondamental