Interview mit Guy Wagner, Mathematiklehrer "NEIE LYCEE"

06.02.2009

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Interview mit Guy Wagner, Mathematiklehrer "NEIE LYCEE"


1. Welche Erfahrungen habt ihr mit den einzelnen schulpädagogischen Instrumenten gemacht ? (Ganztagsschule, Ausrichten der Inhalte nach Kompetenzen, fächerübergreifende Wissensvermittlung, pädagogische Teams, Tutorat, Schülermitbestimmung, keine Noten, Selbstbewertung, Tagebuch, Portfolio,...)

Im Großen und Ganzen haben die einzelnen Instrumente sich als sinnvoll und notwendig erwiesen. Ein wesentliches Ziel unserer Schule ist die Erziehung der Schüler zu mehr Selbstständigkeit. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es unumgänglich, den Schülern ein gewisses Mitspracherecht an der Gestaltung des Unterrichts zuzugestehen. Deshalb hat es sich absolut bewährt, dass wir ziemlich große Freiheiten gegenüber den Curricula haben und in den einzelnen Fächern den Unterricht eher auf Kompetenzen ausrichten als auf vorher festgelegte Inhalte. Die Tatsache, dass die Schüler Einfluss auf den Unterrichtsinhalt haben, hat sich außerdem als positiv für die Orientierung erwiesen. Die Schüler hatten die Möglichkeit, durch zum Teil selbst gewählte Projektarbeiten, ihre Interessen wahrzunehmen und auch ihre Fähigkeiten besser einzuschätzen. Fächerübergreifender Unterricht und Ganztagsschule vereinfachen ebenfalls eindeutig Projektarbeiten, da eine solche Arbeit sich nicht immer einem einzelnen Fach zuordnen lässt und eine Hilfestellung außerhalb der Unterrichtsstunde notwendig sein kann. Dass wir ohne Noten bewerten, wird von den Lehrern im Allgemeinen begrüßt, da es ihnen erlaubt, die Bewertung vielschichtiger zu gestalten und mehr auf den einzelnen Schüler und seine Orientierung zuzuschneiden. Unsere Schüler des technischen Sekundarunterrichts müssen sich am Ende der 5e einer Jury stellen, die aus Lehrern anderer Lyzeen besteht. Diese Jury trifft die Entscheidung betreffend der Orientierung in die Klassen des „cycle supérieur“. Dieses Jahr sind zum ersten Mal solche Jurys zusammengekommen: Die Arbeit der Tutoren ist von den Mitgliedern der Jurys sehr geschätzt worden. Diese vorzügliche Arbeit konnte natürlich nur geleistet werden, weil die Lehrer in pädagogische Teams eingebunden sind, welche sich um nur 3 Klassen kümmern und sich jede Woche während 2 Stunden treffen, um sich auszutauschen. Deshalb wissen die Tutoren ziemlich genau über die schulischen Leistungen ihrer „tutées“ Bescheid.

2. Wie haben sich diese Instrumente über die 3 Jahre weiterentwickelt?

Es hat eigentlich keine radikalen Änderungen gegeben, jedoch eine Reihe von Weiterentwicklungen. Die „études“ wurden inzwischen etwas anders organisiert. Genauer gesagt haben wir sie etwas spezialisiert. Es gibt Räume, in denen es absolut still sein muss; in anderen Räumen kann in Gruppen gearbeitet werden; in noch anderen Sälen sind Lehrer anwesend, die den Schülern gezielt weiterhelfen. Wir sind dabei weitere Maßnahmen zu planen, um eine noch bessere Orientierungsarbeit leisten zu können. In diesem Sinne werden wir nächstes Jahr die in unserem Stundenplan vorgesehenen „Perfectionnement“-Einheiten etwas anders organisieren als bisher. Neben der Möglichkeit, Schwächen aufzuarbeiten, sollen diese Einheiten vorrangig dazu benutzt werden, dass die Schüler in Freiarbeit an einem Thema arbeiten, das sie sich frei aussuchen, um sich so weiter in einem Gebiet zu spezialisieren, das ihren Interessen und ihren Zukunftswünschen entspricht. Die Lehrer sollen den Schülern dabei beratend zur Seite stehen, aber es findet kein eigentlicher Unterricht statt.

Ich möchte in einigen Punkten nachhaken:
2.1. Es gibt einen großen Unterschied in den Lehrmethoden der einzelnen Lehrer. Verschiedene Lehrer bevorzugen den Frontalunterricht, andere Lehrer greifen auf partizipative Methoden zurück. Können die Lehrer machen was sie wollen? Gibt es eine Auswertung der unterschiedlichen Vorgehensarten? Wie gestaltet sich in einer solchen Situation die pädagogische Auseinandersetzung?


Es gibt zuerst mal verschiedene Vorgehensweisen je nach Fach. In einem Fach wie Mathematik spielt der Frontalunterricht wohl öfter eine größere Rolle als im Kunstunterricht. Im Übrigen schließen Frontalunterricht und offener Unterricht einander nicht aus, im Gegenteil, sie sollen sich ergänzen. Wichtig ist, dass die Schüler in möglichst allen Fächern regelmäßig an offenen Aufträgen arbeiten. Um dies noch weiter zu fördern, haben wir übrigens dieses Jahr das Fach „Perfectionnement“ etwas anders organisiert. Dieses Fach funktioniert jetzt zum Teil als eine Art Freiarbeit, wo jeder Schüler selbstständig an einem von ihm selbst gewählten Thema arbeitet. Alle sechs Wochen, während einer „demi-journée pédagogique“ treffen sich die Lehrer die das gleiche Fach unterrichten, um sich über Inhalte und Methoden in ihrem Fach intensiv auszutauschen. Ein solcher Austausch findet logischerweise ebenfalls in Alltag statt, da die Lehrer 30 Stunden in der Woche in der Schule anwesend sind. Selbstverständlich führt das alles nicht dazu, dass jeder Lehrer auf genau die gleiche Art und Weise unterrichtet. Das wäre überhaupt nicht wünschenswert, denn ich glaube nicht, dass es DIE richtige Methode gibt, Unterricht zu gestalten. Der Lehrer muss seinen Unterricht so gestalten können, dass auch er sich wohl fühlt, sonst gelingt ihm kein zufrieden stellender Unterricht. Auch für den Schüler ist es von Nutzen, wenn er sich regelmäßig etwas umstellen muss.

2.2. Im letzten Jahr habt ihr versucht die Schülerselbstbewertung zu fördern. Dazu habt ihr ein Tagebuch entwickelt. Warum habt ihr dieses Tagebuch nach einem Jahr zurückgezogen? Soll eine andere Methode der Selbstbewertung entwickelt werden?


Das Tagebuch hat in der Praxis nicht sehr gut funktioniert. Statt dessen probieren wir ab diesem Jahr ein „Journal de bord“. Das ist ein Ordner, in dem Informationen gesammelt werden, die bei der Orientation des Schülers helfen können. Dazu gehören ebenfalls regelmäßige Beiträge des Schülers, in denen er seine eigene Arbeit bewertet, die Idee des Tagebuchs fließt also hier mit ein. Der Vorteil eines solchen Ordners ist, dass Teile davon, wenn der Schüler will, der Jury am Ende der 5e/4e vorgelegt werden kann. Das war beim Tagebuch nicht möglich.


2.3. Schüler des 3ten und 4ten Jahrgangs machen klassische Prüfungen in denen auswendig gelerntes Wissen abgefragt wird. Warum?


Sich Wissen aneignen gehört zu den übergeordneten Kompetenzen, die im réglement grand-ducal, welches den Betrieb des Neie Lycée regelt, festgehalten sind. Eine Möglichkeit, solches Wissen zu kontrollieren, sind Wissenstests. Auf 5e und 4e wird darauf größeren Wert gelegt als auf 7e und 6e, wo mehr Zeit darauf verwendet wird, den Schülern beizubringen, wie man selbst Informationen zusammensucht und verarbeitet. Wissen abfragen soll und muss bewertet werden, darf aber in jedem Fach nur ein Aspekt in der Bewertung einnehmen. Wenn ich die Portfolios der Schüler durchblättere, muss ich feststellen, dass auf sämtliche Klassen andere Arbeiten als reine Wissenstests deutlich überwiegen.


2.4. Vor 3 Jahren habt ihr angekündigt, ihr würdet die Schule zur Außenwelt öffnen, die Schüler sollten vermehrt im Kontakt zur Außenwelt stehen. Konntet ihr diesem Anspruch gerecht werden?


Ich glaube schon. Unsere Schüler sind regelmäßig im Rahmen der Unterrichtstunden mit ihren Lehrern in Museen, Ausstellungen usw. Dazu kommt, dass eine Reihe von Schülern im Rahmen einer Freiarbeit sich Informationen außerhalb der Schule, zum Beispiel in Interviews, beschaffen müssen. Außerdem nehmen alle Schüler des Neie Lycée, ob ES oder EST, an „stages d'observations“ teil. Das dort Beobachtete wird anschließend in der Schule zum Thema gemacht und spielt eine nicht unwesentliche Rolle in der Orientierung.


2.5. Ist euch die fächerübergreifende Wissensvermittlung gelungen? Wird in den Hauptfächern Problemstellungen der interdisziplinären Fächern eingegangen?

Die interdisziplinären Fächer sind als solche ja schon fächerübergreifend. In diesen Fächern werden Themen behandelt, die sich aus Fragen der Schüler ergeben, und diese Fragen lassen sich eigentlich nie auf ein einziges Fach begrenzen. Die Verbindungen zwischen den einzelnen interdisziplinären Fächern respektive mit den disziplinären Fächern sind lockerer. Am Anfang jedes Trimesters informiert jeder Lehrer die Kollegen, welche Themen er in seinem Fach behandeln will. Dabei kann es zu einer inhaltlichen Abstimmung zwischen den einzelnen Fächern kommen, wenn es sinnvoll ist. Eine komplette Vernetzung zwischen allen Fächern findet aber nicht statt und wäre auch übertrieben und mit einem zu großen organisatorischen Aufwand verbunden.


3. Habt ihr in der Zwischenzeit die Prioritäten oder die Zielsetzungen eures Projekts geändert?

Eigentlich nicht. Das Ziel des „cycle d'orientation“ ist nach wie vor, jeden Schüler optimal zu fördern und von jedem Schüler zu erwarten, dass er sein Bestes gibt um eine seinen Wünschen und Kapazitäten entsprechende, bestmögliche Orientierung zu gewährleisten.


4. Wie ist die Stimmung der Kollegen nach 3 Jahren „Neie Lycée“?


Gut. Man merkt nach wie vor, dass die Lehrer geschlossen hinter dem Projekt stehen und mit immer neuen Ideen das Projekt weiterentwickeln wollen. Manchmal ist es sogar nötig, den Einsatzeifer etwas zu zügeln, um sicherzustellen, dass uns nicht in ein paar Jahren die Luft ausgeht. Am Ende eines Trimesters merkt man allerdings ganz klar die Belastung, welche das Schreiben einer Textzensur mit sich bringt. Noten sind da eindeutig einfacher.

5. Was halten die älteren Kollegen von den veränderten Arbeitszeiten?

Ich kann da eigentlich keinen Unterschied zwischen älteren und jüngeren Kollegen feststellen. Die Notwendigkeit einer längeren Präsenz in der Schule - unsere Lehrer müssen 30 Stunden anwesend sein - leuchtet eigentlich jedem ein. Ohne diese Präsenz ist der Austausch, der nötig ist, um sich ein ganzheitliches Bild von den Schülern zu machen, nicht möglich. Auch fachfremdes Unterrichten benötigt einen Austausch mit den Kollegen. Bis letztes Jahr waren die Präsenzzeiten der Lehrer fest in ihrem Stundenplan verankert. Auf Wunsch der Lehrer wurden die Präsenzstunden ab diesem Jahr flexibel gestaltet, das heißt wir haben seit September 2007 eine Stechuhr. Dabei ist mir aufgefallen, dass die meisten unserer Lehrer deutlich länger in der Schule anwesend sind als 30 Stunden.

6. Welche Rückmeldungen habt ihr von den Kollegen aus anderen Schulen?

Im Laufe dieses Jahres war eine Gruppe von Lehrern des Atertlycée aus Redingen zu einem Austausch ins NL gekommen. Dieses Gespräch war sehr aufschlussreich. Dabei wurde klar, dass die Kollegen des Atertlycée in vielen Punkten mit uns auf einer Wellenlänge sind, was uns natürlich in unseren Ideen bestätigt. Viele Rückmeldungen bekamen wir natürlich auch von den Mitgliedern der Jurys. Diese zeigten sich sehr an unserer Arbeit interessiert, lobten die Arbeit unserer Lehrer und machten uns aufmerksam, welche Kompetenzen und Fähigkeiten nicht deutlich genug aus unseren Portfolios ersichtlich sind. So gaben uns einige Ideen mit auf den Weg, wie wir unsere Portfolios verbessern könnten.

Aufgenommen von Claude Simon