Interview mit Sylvie Elcheroth "Eis Schoul"

06.05.2008

Interview mit Sylvie Elcheroth "Eis Schoul"


Claude Simon: Was bedeutet „pédagogie inclusive“?

Sylvie Elcheroth: Es bedeutet, dass Kinder nicht nach Defiziten kategorisiert und ausgesondert werden. Dann braucht man nachher auch niemanden zu integrieren. Alle Kinder gehören von vorn herein dazu und nehmen aktiv am Lernen und am Schulleben Teil. Das beinhaltet eine Reihe von Herausforderungen an das multiprofessionelle Team. Die Bedürfnisse und Fähigkeiten aller Kinder müssen genau erfasst werden, nächste Lernschritte müssen sorgfältig geplant und umgesetzt, das Gelernte dann wieder festgestellt werden. Da das Lernen sich auf alle Aspekte der kindlichen Entwicklung bezieht, ist die multiprofessionelle Perspektive eine Voraussetzung für das Gelingen.

C.S.: Was bedeutet „aktive Lernformen“? Was heißt „volle Teilhabe aller Schülerinnen und Schüler an allen Aspekten des Schullebens „?

S.E.: „Aktiv“ bedeutet einerseits, dass die Kinder aus dem konkreten Leben lernen: sie erforschen den Lebensraum um die Schule herum, untersuchen technische Geräte, stellen selbst Dinge her, kochen, unterhalten sich mit Erwachsenen, die z. B. einen bestimmten Beruf ausüben, manipulieren Material usw. Andererseits meinen wir damit die Eigeninitiative der Kinder: sie stellen Fragen, suchen Informationen in Büchern, in Zeitschriften, im Internet nach; sie machen Vorschläge, beteiligen sich an der Auswertung der eigenen Lernfortschritte und bestimmen mit, was sie als nächstes lernen sollen und wie.

C.S.: Kannst du die Bewertungsinstrumente beschreiben? (Bsp. individualisierte Tests, Lernentwicklungsbericht, Lerntagebuch, Portfolio, pädagogisches Abschlussarbeit, Selbstbewertung,...)

S.E.: Das Wort „Bewertung“ passt nicht ganz. Die Fortschritte der Kinder sollen nicht bewertet und untereinander verglichen, sondern für jedes Kind individuell möglichst genau beschrieben werden. Dazu benutzen wir zwei „Instrumente“: das Portfolio und die Abschlussarbeit, die wir nach der Terminologie der „Education nouvelle“ „Chef d“oeuvre pédagogique“ nennen.

Das Portfolio beinhaltet eine Sammlung von Aufgaben des Kindes, die es mit Hilfe des multiprofessionellen Teams auswählt und beschriftet, ein Lerntagebuch, in dem das Kind sein Lernen kommentiert, sowie einen Lernbericht, der zweimal im Jahr vom multiprofessionellen Team angefertigt wird und Lernstufen und -fortschritte präzise festhält. Daneben gibt es ein „Lehrerportfolio“, in dem das multiprofessionelle Team sämtliche Angaben zu den Kindern sowie alltägliche Beobachtungen aufzeichnet.

Das pädagogische Meisterstück wird im Laufe des letzten Grundschuljahres von jedem Schüler einzeln, jedoch mit der Unterstützung der Mitschüler und einiger Erwachsener, ausgearbeitet. Es besteht aus einer schriftlichen, illustrierten Arbeit zu einem Thema, welches das Kind selbst gewählt hat, einer interaktiven Vorstellung dieser Arbeit vor der gesamten Schulgemeinschaft, sowie einer Ausstellung. Es beinhaltet Aspekte aller Lernbereiche der Grundschule (Sprachen, Mathematik, Naturkunde, Geographie, Geschichte...)

Beide Instrumente gehen über das Beschreiben von Lernfortschritten hinaus. Das Portfolio gibt dem Kind die Gelegenheit, Tag für Tag sein eigenes Lernen zu reflektieren und bewusst zu planen. Es ermöglicht dem multiprofessionellen Team, seine pädagogische Praxis immer wieder zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Das pädagogische Meisterstück bedeutet Krönung eines neunjährigen Lernprozesses, Abschluss der Grundschulzeit und Übergang zu einem neuen Lebensabschnitt. Das Kind erlebt dabei das freudige Gefühl, eine komplexe, langwierige Arbeit erfolgreich abgeschlossen zu haben.

C.S.: Wie können die verschiedenen Sprachen und Kulturen der Schüler als Reichtum genutzt werden?

S.E.: Bei der Forschung an der Uni Luxemburg über Mehrsprachigkeit in der Grundschule habe ich mit meinen Forscher-KollegInnen, in Zusammenarbeit mit LehrerInnen und ihren Klassen, festgestellt, wie sehr die klassische Unterrichtsweise den Kindern die Möglichkeit nimmt, sich mit den Mitteln auszudrücken, die sie sich im familiären und außerschulischen Umfeld angeeignet haben. Je mehr Gruppenarbeit und Eigentätigkeit der Kinder in den Vordergrund rücken, umso mehr bringen die Kinder ihren außerschulischen Reichtum in das schulische Lernen mit ein. Sie beginnen, von Erlebtem zu berichten, zu zeichnen, spielerisch darzustellen, in ihrer Muttersprache zu sprechen, kurzum: sich in allen Sprachen des Kindes auszudrücken. Dadurch wird ihr Beitrag zu den schulischen Aktivitäten viel reicher und lebendiger, ihre Fantasie und ihr Nachdenken werden angeregt, und durch anschließendes Umsetzen in die Schulsprachen lernen sie viel mehr und viel leichter, als wenn man sich den „Umweg“ über die Sprachen des Kindes „erspart“ hätte.

Dadurch, dass Außerschulisches in der Schule zum Ausdruck kommt, erfahren die Kinder, wie verschieden ihre Hintergründe sind. Sie lernen, diese Vielfalt zu schätzen und sich für die Besonderheiten der anderen zu interessieren.

C.S.: Was heißt vom einzelnen Schüler ausgehen oder individualisierte Lernwege, Zielsetzungen anstreben, wenn ihr die pädagogische Rhetorik überwinden möchtet?

S.E.: Konkret bedeutet es, dass wir nicht nach Schulbüchern arbeiten, sondern von der direkten Umwelt und den Interessengebieten der Kinder ausgehen. In der Regel bestimmen die Kinder ihre Themen gemeinsam mit anderen, aufgrund eigener Interessen, Interessen der anderen SchülerInnen, Zielsetzungen des multiprofessionellen Teams, des Lehrplans.... Bei jedem Thema werden zuerst Fragen gestellt: was wollen wir darüber wissen? Dann geht die Forschungsarbeit der Kinder los: in allen verfügbaren Medien nach Antworten suchen, ExpertInnen befragen, Antworten kritisch untersuchen und vergleichen, neuen Fragen nachgehen. Teilergebnisse werden den anderen anschaulich vorgestellt, zum Teil mit Hilfe neuer Technologien, und sie werden im Alters- oder Klassenverbund diskutiert. Auch SchülerInnen der anderen Lerngruppen können in diesen Ausarbeitungsprozess mit einbezogen werden. Beiträge werden ergänzt, illustriert, überarbeitet, bis ein Produkt entstanden ist, das vorgestellt wird.

C.S.: Wie kann man sich den Alltag in „eis Schoul“ vorstellen?

S.E.: Für Frühaufsteher beginnt der Tag mit einem leckeren, vollwertigen Frühstück (ab 7 Uhr).

Um 8 Uhr beginnt der Unterricht in den Lerngruppen. Zuerst treffen die 36 Kinder einer Lerngruppe sich im Morgenkreis. Das Datum wird in mehreren Sprachen erwähnt, Erlebnisse können berichtet werden. Lieder, Gedichte und sonstige mehrsprachige Rituale schließen den großen Sitzkreis ab. Im kleinen Kreis der Altersgruppe wird nun der Arbeitsplan besprochen. Jedes Kind soll sich darüber klar werden, und mit dem verantwortlichen Erwachsenen besprechen, was es an diesem Tag erarbeitet, mit wem, an welchem Ort und mit welchem Material.

Die Kinder arbeiten mal allein, mal zu zweit, mal in Gruppen, mal mit Erwachsenen und mal ohne. Von 10 bis 10 Uhr 30 gibt es eine Pause; danach folgt eine weitere Lernphase.

Die Mittagspause mit Essen im Schulrestaurant, Ruhephase und freiem Spiel findet zwischen 12 und 13 Uhr 30 statt.

Anschließend wird noch einmal gearbeitet. Wie in jeder Schule gibt es auch Schwimmen, Sport, Musik- und Bastelaktivitäten sowie Religion- oder Moralunterricht. Daneben beteiligen die Kinder sich allwöchentlich am Schülerparlament, führen ihr persönliches Lerntagebuch und ergänzen regelmäßig ihr Lernportfolio.

Danach beginnt für die einen der Nachmittag in der Familie, und für die anderen das Freizeitangebot innerhalb der Schule. Die Freizeitaktivitäten sind in das Gesamtkonzept der Schule eingebunden; Schulthemen werden hier neu aufgegriffen. Es wird Theater gespielt, musiziert, getanzt, künstlerisch gestaltet; einige Kinder finden ihre Freude bei Bewegung und Sport, andere bei Gartenarbeit oder Waldspaziergängen, wieder andere lernen Sprachen oder stöbern in der Bibliothek.

C.S.: Gibt es unterschiedliche Zielsetzungen im Vergleich zu der Regelschule?

S.E.: Als öffentliche Schule verfolgt „Eis Schoul“ die Ziele des Lehrplans. Das betrifft die Lernbereiche Mathematik, Deutsch, Französisch und alle weiteren Lernbereiche der Vor- und Grundschule. Dabei legen wir besonderen Wert auf Emanzipation - also Entwicklung des kritischen Denkens, Selbsteinschätzung und Mitbestimmung - und solidarisches Miteinander - also Respekt, Wertschätzung der Unterschiede und Zusammenarbeit - im Sinne demokratisch- humanistischer Werte. Auch der respektvolle Umgang mit der Umwelt wird besonders hervorgestrichen.

C.S.: Wie wird der Alltag eines Pädagogen aussehen?

S.E.: Ich finde es schön, dass du den Sammelbegriff „Pädagogen“ benutzt, denn tatsächlich gibt es in der Arbeitsaufteilung zwischen „Educateurs / éducatrices gradué(e)s“ und Lehrern nur wenige Unterschiede, auch wenn die mitgebrachten Kompetenzen unterschiedlich sind.

Der größte Teil der Arbeit erfolgt im Team: Unterrichtsplanung, Bereitstellen des Materials, Begleitung und Beobachtung der Kinder beim Lernen und beim Anfertigen ihrer Portfolios, Nachbesprechungen, regelmäßige Eintragungen ins Lehrerportfolio, Anfertigung der Lernberichte, aber auch: Treffen organisatorischer und pädagogischer Entscheidungen in der allwöchentlichen Personalversammlung, Elternarbeit, Forschung, Weiterbildung, Materialwartung und -ergänzung und, ab 2009-2010, Empfang von StudentInnen sowie von KollegInnen zu Hospitation und Austausch. In diese gemeinsame Arbeit sind übrigens auch Psychologin und Heilpädagogin eingebunden. Im Prinzip werden alle Belange der Schule gemeinsam besprochen und entschieden; jeder einzelne arbeitet dann auch noch individuell daran weiter.

Auch die ErzieherInnen gehören integral zum Team; sie haben die gleichen Aufgaben, nur mit einer anderen Gewichtung. Hier stehen Betreuung und Begleitung der Kinder bei außerschulischen Aktivitäten im Vordergrund.

C.S.: Kannst du uns die wissenschaftliche Begleitung beschreiben? Welche Untersuchungen werden jetzt schon getätigt?

S.E. : Einige ForscherInnen der Uni Luxemburg gehören zu den Initiatoren des Projektes „Eis Schoul“. Ihr Wissen und ihre Kompetenzen sind von Anfang an in die Entwicklung der Schule eingeflossen. Dadurch, und durch die Verwurzelung mit der „Education nouvelle“, hat sich nach und nach beim ganzen Team der „Forschergeist“ entwickelt. Wir stellen ständig unsere Auffassungen und Arbeitsmethoden in Frage, konfrontieren sie mit anderen und bereichern oder verändern sie durch den Austausch. Forscher sein bedeutet, sich in einem ständigen Entwicklungsprozess zu befinden und sich dabei auf wissenschaftliche Methoden zu stützen.

Konkret arbeiten wir seit Juli 07 an dem Forschungsprojekt „PORTINNO: le portfolio comme outil d“innovation des pratiques d“apprentissage et d“évaluation à l“école obligatoire“. Die Forschungsgruppe besteht aus vier ForscherInnen und zehn LehrerInnen und „Educateurs / éducatrices gradué(e) s“, von denen interessanterweise nur etwa die Hälfte in „Eis Schoul“ arbeiten werden; die anderen arbeiten in verschiedenen Schulen des Landes. Jede Woche ist eine sechsstündige Arbeitszeit fest eingeplant, die abwechselnd individuell und in der Gruppe genutzt wird. In einem ersten Schritt wurden die bereits bestehenden Portfolios vorgestellt und analysiert. Danach wurde ein erstes gemeinsames Portfolio entwickelt. Die ForscherInnen begleiteten die Portfolioarbeit mit den Kindern, indem sie zusätzlich zu den Beobachtungsnotizen der PädagogInnen ihren eigenen Blickwinkel mit einbrachten, Gespräche mit Kindern führten und Ausschnitte der Portfolioarbeit filmten, um sie besser in der Gruppe analysieren und reflektieren zu können. Ab September 2008 wird sich das ganze Team von „Eis Schoul“ an diesem Projekt beteiligen.

Weitere Forschungsprojekte werden sich mit dem praktischen Umsetzen der Inklusion befassen, vermutlich mit einem Teilbereich Mehrsprachigkeit und Transkulturalität.

C.S.: Wie sind die Reaktionen der Lehrerkollegen auf euer Projekt?

S.E.: Es gibt die Begeisterten und die Reservierten. Beide Kategorien sind wichtig für unser Projekt. Die Begeisterten bringen ihre Ideen und praktischen Vorschläge mit ein und beteiligen sich bereits am „Réseau d“échanges“, dem Netzwerk für pädagogischen Austausch, das wir von „Eis Schoul“ ausgehend aufbauen. Die Reservierten machen uns aufmerksam auf Hindernisse und Widersprüche, die auftauchen wenn die Luxemburger Schule den Weg zu mehr Offenheit, Teamarbeit und Inklusion einschlägt. Diese Hindernisse und Schwierigkeiten bedürfen unserer ganzen Aufmerksamkeit. Sie im Dialog zu überwinden ist eine wesentliche Dimension der Schulentwicklung. Auch hier gilt es, inklusiv zu denken und zu handeln, und jedem die Möglichkeit zu geben, diesen Weg auf seine, begeisterte oder reservierte Art, zu gehen.

C.S.: Ich danke Dir für diese ausführlichen Erklärungen.