Eine vertane Chance (Journal 4/2004) Jean-Claude Reding

09.09.2004

Eine vertane Chance


Als Anne Brasseur 1999 das Ministerium für nationale Erziehung und Berufsausbildung übernahm, waren die Erwartungen hoch gesteckt. Es war das zweite Mal seit dem Ende des 2. Weltkrieges, dass die CSV nicht diesem Ministerium vorstand. Die DP hatte das Thema Bildung zu einem Hauptthema des Wahlkampfes gemacht und sich die Forderung nach einer Bildungsoffensive, die unter anderem vom OGB•L getragen wurde, zu eigen gemacht. Zu Recht, denn viele Menschen waren und sind der Überzeugung, dass eine gute Schule mit einem qualitativ hochwertigen Bildungs- und Ausbildungsangebot, eine Schule für alle, die jeden maximal fördert, von entscheidender Bedeutung für die Zukunft Luxemburgs ist. Und viele Menschen waren der Meinung, dass die 20-jährige CSV-Herrschaft im Bildungswesen, der es schnell gelungen war die Reformansätze der sozialliberalen Koalition aus den 70er Jahren zu stoppen oder zu pervertieren, eine Periode der Stagnation und der Regression war. Tatsache war, dass das luxemburgische Bildungswesen Ende der 90er Jahre definitiv nicht mehr in der Lage war, die gewünschten und erforderten Resultate zu erzielen. Die von Seiten kritischer Bildungsgewerkschaftler, von Politikern und Elternvertretern, von Ausländerorganisationen, von Vertretern der Berufswelt vorgebrachten Befürchtungen, Kritiken und Warnungen wurden später exemplarisch durch die so genannte PISA-Studie bestätigt.

Anne Brasseur hatte dementsprechend eine schwere Erbschaft angetreten. Sie hatte aber einen Vertrauensvorsprung, sie konnte auf die Sympathie vieler engagierter Menschen im und um den Bildungssektor rechnen. Die Bereitschaft zu einer konstruktiven Zusammenarbeit bestand.

Die Erwartungen wurden aber schnell enttäuscht.

Die Regierungserklärung in Bezug auf die Bildungspolitik ließ kaum Begeisterung aufkommen und die Kompetenzaufteilung in der Regierung warf manche Fragen auf.

Die Schaffung eines eigenständigen Hochschulministeriums, die Ausgliederung der Jugendpolitik und der Verantwortlichkeit für die sozialerzieherischen Strukturen rund und um die Schule ins Familienministerium haben manche negativen Auswirkungen gehabt.

Die Beschränkung der Kompetenzen des Bildungsministeriums auf die so genannten rein schulischen Komponenten der erzieherischen Arbeit rund um die Schulen erschwerten eine kohärente Strategie für ein Ganztagsschulangebot. Es stellte sich allerdings auch bei Gesprächen u.a. der Ligue de l'Enseignement mit der Ministerin heraus, dass ein Ganztagsschulangebot für Frau Brasseur keine bildungspolitische Priorität darstellte. Sie setzte eher auf Appelle an das Verantwortungsbewusstsein der Eltern, beachtete aber nicht, dass es das Abstraktum Eltern nicht gibt, dass die Familienstrukturen sich stark geändert haben, dass das beschäftigungspolitische Ziel der Regierung, die Frauenerwerbsquote kurzfristig drastisch zu erhöhen, erhebliche Änderungen in der Organisation der Schulen und der Bildungspolitik voraussetzt.

Zudem würde eine globale Strategie für eine Ganztagsschule, die auf die organisierte Komplementarität der schulischen Arbeit, der paraschulischen Arbeit («Hausaufgaben, Stützkurse ») und der sozialerzieherischen Aktivitäten im schulischen Umfeld setzt, es erlauben mehr Chancengerechtigkeit zu schaffen. Die mangelnde Chancengleichheit, die seit Jahren moniert wird und auch in der PISA-Studie hervorgehoben wurde, ist nicht bloß eine soziale Ungerechtigkeit, sie ist auch eine Gefahr für den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft, darüber hinaus ein wirtschaftlicher Unsinn. Sie bedeutet eine Vergeudung menschlicher Fähigkeiten, die brach liegen, anstatt dass sie genutzt werden.

Keine Änderungen, sondern Rückschläge

Nur scheint mir, dass Frau Brasseur die wirtschaftsund gesellschaftspolitische Bedeutung der hochgesteckten Ziele, die sie auf europäischer Ebene u.a. im Rahmen der Beschlüsse des Lissaboner Gipfels, der so genannten Lissabon-Strategie mit beschließt, nicht sieht.

Die Zielsetzung, dass 80% der 20 bis 24-jährigen einen allgemein bildenden oder technischen, berufsbildenden Schulabschluss haben sollen, hat keine Änderungen in der luxemburgischen Bildungspolitik bewirkt, außer dass durch europakonformere Statistiken versucht wird die Lage zu beschönigen. Im Gegenteil, wie gehabt wird Bildungspolitik mittels Promotionskriterien gemacht, und der Kampf gegen den schulischen Misserfolg besteht hautsächlich darin, dass Schüler mit Lernschwächen und schulischen Defiziten möglichst schnell aus anspruchsvolleren schulischen Lehrgängen herausorientiert werden. Auf diese Weise wird weder die berufliche Ausbildung im Handwerk aufgewertet, noch die Herausforderung, möglichst viele Jugendliche möglichst hoch zu qualifizieren, erreicht. Frau Brasseur führt hier die falsche Politik ihrer Vorgängerin weiter.

Ein weiterer Punkt in der Negativbilanz von Frau Brasseur ist ihr Widerstand gegen eine Reform der Ausbildung der Grundschullehrer und der Erzieher. Die Schaffung des Hochschulministeriums erlaubte es ihr lange, die Verantwortung für den Stillstand in dieser Frage auf das Hochschulministerium zu schieben. Die rezenten Gesetzesprojekte über die Primärschule, genau wie die so genannte Vorlage zum Basisschulgesetz zeigen aber klar, dass es Frau Brasseur ist, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat und auch im Bereich der Lehrerausbildung keine zukunftsweisenden Schlussfolgerungen aus dem PISA-Debakel gezogen hat.

Die in der Regierungserklärung angekündigte Reform der Berufsausbildung im dualen System (Lehrlingsausbildung ) fand nicht statt. Kurz vor Torschluss wurde bloß ein Vorprojekt vorgelegt, das bislang kaum diskutiert werden konnte.

Auch im Bereich der viel beschworenen Weiterbildung, des life long learning, ist die Bilanz mehr als dürftig.

Die von OGB•L / LCGB und UEL ausgehandelten Vorschläge für eine Verbesserung des Weiterbildungsurlaubs waren keine Priorität, sie wurden nicht mehr vor dem Schluss der Legislatur durch die Abgeordnetenkammer gepeitscht.

Die Reformvorschläge des WSR aus der Mitte der 90er Jahre für eine Reform der Erwachsenenbildung blieben in den ministeriellen Schubläden liegen.

Ein schwerer Rückschlag war die Reform des Privatschulgesetzes. Die Auswirkungen dieses Gesetzes sind eng mit der Debatte um die Liberalisierung des Dienstleistungsmarktes und die Rolle der öffentlichen Dienste in der Europäischen Union und in der Welthandelsorganisation verknüpft. Dieses Gesetz schwebt wie ein Damoklesschwert über der öffentlichen Schule.

Frau Brasseur hat es auch verpasst, die Dialogstrukturen in den Schulen und im Bildungswesen insgesamt zu verbessern. Es ist ihr nicht gelungen die Dialogkultur im Bildungswesen zu verbessern. Außer seitens der DP- Gewerkschaftlern in den CGFP-Organisationen im Bildungswesen erntete sie von den meisten anderen Akteuren Kritik.

Frau Brasseur hat die in sie gestellten Hoffnungen und Erwartungen nicht erfüllt. Sie hat es nicht geschafft, Visionen zu entwickeln und zukunftorientierte Vorschläge zu machen, die zeigen wie diese Visionen und die eingegangenen europäischen Zielsetzungen verwirklicht werden können. Sie hat keinen Reformkonsens geschaffen. Die Bildungsoffensive bleibt eine Aufgabe für die nächste Regierung.


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Jean-Claude Reding
Président de l'OGB-L