Neie Lycée : Wege entstehen indem man sie geht - Interview mit Guy Wagner und Carine Niederweis (Journal 6/2005)

07.01.2006

Das Interview mit Guy Wagner (Mathematiklehrer) und Carine Niederweis (angehende Sozialarbeiterin) wurde am 18. November von Claude Simon (Mitglied der SEW-Syndikatsleitung) im “Neie Lycee“ aufgenommen.

Claude Simon (CS): Guy Foetz hat in einer Stellungnahme zum Konzept des Neie Lycee (NL) die Befürchtung ausgedrückt, die Lehrer könnten durch die vielfältigen Arbeiten (Tutorat, Teamarbeit und Vorbereitung der einzelnen Unterrichtseinheiten) überfordert werden und wesentliche Aufgaben so zum Beispiel die Umsetzung der ungenau formulierten Kompetenzen aus dem Auge verlieren.

Guy Wagner (GW): Der NL lehnt sich an die bestehenden Programme an. Es stimmt, wir müssen die Kompetenzen in operationelle Ziele für den Alltag formulieren, doch muss man auch sehen, dass diese größeren Freiheiten uns entlasten. Der Schulalltag ist weniger belastend, da wir eher auf die Problemeunserer Schüler reagieren. Wir begleiten sie in ihrem Werdegang. So bleiben uns die Vorbereitung von langatmigen Vorträgen, die kennzeichnend für die dirigistischen Methoden sind, erspart.

CS.: Ihr habt euch vorgenommen, dass die Schüler häufig in Gruppen arbeiten sollen in allen Momenten des Lernprozesses. Wie haben eure Schüler und die Kollegen hierauf reagiert?

GW.: Wir haben das Thema „Reisen“ für die Schule definiert. Diese Leitidee wurde anschließend von allen Klassen nach ihren Interessen im Rahmen der unterschiedlichen Fächer interpretiert. Nun arbeiten die Schüler einzelne Teilbereiche heraus. Die interdisziplinären Fächer sind erfolgreich in das globale Thema eingebunden. Doch werden noch zu wenige Fragen an die Fächer Mathematik oder Sprachen gestellt, so dass hier in erster Linie losgelöst vom globalen Thema gearbeitet wird.
Die Schüler hingegen sind zu einem großen Teil in Gruppenarbeiten eingebunden, mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Die Schüler haben kaum Schwierigkeiten zu zweit zusammen zu arbeiten, doch können wir allgemein feststellen, dass die größeren Arbeitsgruppen weniger gut laufen. Wir arbeiten im NL mit ganz „normalen“ Schülern, die die gleichen Verhaltensweisen wie andere Schüler aufweisen. Wir werden also auch mit allen Phänomenen unkooperativen Verhaltens konfrontiert. In den interdisziplinären Fächern wird fast zu 100% in Gruppen gearbeitet, in meinem Fach, der Mathematik, wird allerdings nur zu 50% im Team gearbeitet, die restliche Zeit besteht aus Lerneingaben.

CS.: Wie wirkt sich das Tutorat auf die Beziehung zu den Schülern aus?

GW.: Ich glaube zur Zeit müssen die Tutoren den Schülern vor allem helfen sich in dieser neuen Umgebung zu orientieren. Einzelne Schüler organisieren sich recht gut, andere brauchen den Tutor bis zu einer halben Stunde pro Woche. Ich denke, dass sich die Beziehung zwischen Tutor und Schüler in den nächsten Monaten noch vertiefen wird. Doch schon jetzt kann man feststellen, dass wir global mehr Kontakte zu den Schülern haben, allein durch den Umstand viel länger in der Schule anwesend zu sein. Auch die Gespräche mit den Kollegen tragen viel zu einem besseren Bild des einzelnen Schülers bei.

CS.: „Logbuch“ und „Portfolio“ sind zwei Innovationen eurer alternativen Lehrmethoden. In wie fern identifizieren sich die Schüler mit diesen fremden Lehrmitteln?

GW.: Da wir erst am Anfang stehen, haben die Schüler kaum Werke für das eigene Portofolio erarbeitet. Ich gehe also davon aus, dass sie sich dieses Instrument noch kaum zu eigen gemacht haben. Auch das Logbuch wird zur Zeit von von vielen Schülern anstelle eines wirklichen Tagebuches ihres schulischen Werdeganges eher als eine einfache Agenda gebraucht.

CS.: Wie erleben sie die Atmosphäre in dieser Anfangszeit?

GW.: In den letzten zwei Monaten haben wir versucht eine neue Schule auf die Gleise zu setzen. Wir hatten also alle Hände voll zu tun. Wir erleben auch unangenehme Momente, doch wir reagieren als ein Team auf diese Anforderungen. Keiner muss allein kämpfen.
So kennen wir auch Probleme mit der Disziplin, doch haben wir nicht mehr und auch nicht weniger Probleme als in anderen Schulen. Nichtsdestotrotz versuchen wir cool zu bleiben, die Zielrichtung zu halten, keine voreilige Lösungen zu erzwingen und zu warten, dass sich unser Konzept „Autonomie, Verantwortung und Respekt“ durchsetzt. Ich kann dies vielleicht an einem Beispiel veranschaulichen. Wir hatten eine Halloween Party in der Schule, die Lehrer blieben im Hintergrund. Wir hatten an diesem Tag kaum nennenswerte Probleme, was mich zuversichtlich stimmt. Ich glaube, wenn wir den Schülern mehr Verantwortung übertragen, werden negative und eigensüchtige Verhaltensweisen zurückgehen.

CS.: Wir wissen aus der Erfahrung, dass die Schulsozialarbeit einen schweren Stand in den Schulen hat.
Wie können sie sich als Sozialarbeiterin in das Projekt integrieren?

Carine Niederweis (CN): Ich denke, dass im NL die Vorraussetzungen für die Schulsozialarbeit sich von anderen Schulen wesentlich unterscheiden. Wir sind
eine Gruppe von 6 ErzieherInnen. Dies gibt uns im Kollegium ein ganz anderes Gewicht.
Wir sind eingebunden in ein Teamteachingkonzept. So können wir unsere sozialpädagogische Perspektive sehr direkt beim Klassenlehrer einbringen. Nicht wir bestimmen den zu behandelnden Lehrstoff, doch wir machen Vorschläge und tragen so zu einer differen-
zierten Herangehensweise an die Klasse und an jeden einzelnen Schüler bei. So kann ich in einer Turneinheit zum Beispiel, im Rahmen der Leitlinie „Aufbau eines positiven Körpergefühls“, einen übergewichtigen Schüler vielleicht in seinen eigenen Anstrengungen bestärken, ohne dass er sich an den Spezialisten der Klasse messen muss. Das Teamteaching kann mir die Möglichkeit geben, in Absprache mit dem Kollegen gezielt auf „Störenfriede“ einzugehen, um mit ihm den Weg zu einem konfliktfreieren Lernen zu finden.

Doch vor allem die vorgegebenen Leitlinien des NL,also „Respekt, Autonomie und Verantwortung“ geben unser sozialpädogogischen Perspektive eine Basis. Wir garantieren, dass die sozialen Aspekte des Lernprozesses nicht in den Hintergrund gedrängt werden.
Zur Zeit suchen, die Schüler eine Orientierung in einem neuen Milieu. Viele Schüler aus einem vielleicht eher behüteten Umfeld, finden sich nun in einer ihnen unbekannten Stadt, in einer fremden Lernwelt wieder. Dies führt bei manchen zu Ängsten, dies wirft viele Fragen auf, die wir zusammen mit den Schülern erörtern. Auch weiterhin werden wir die Schüler auf ihrem Weg zu einer größeren Autonomie begleiten.
Wir wollen den Schüler helfen ihr Zukunftsprojekt zu realisieren.

CS.: Ein Fernsehbericht über das finnische Schulsystem zeigte, dass der Respekt der Institution Schule jedem einzelnen Schüler gegenüber, der Erfolgschlüssel dieses Pisa Champions ist. Wie konjugiert ihr „Respekt“?

CN.: Wir befürworten eine individuelle Herangehensweise an den Schüler. Wir versuchen jeden einzelnen dort abzuholen, wo er sich befindet. Jeder Schüler hat seine eigene Biographie, seine Talente, seine Kultur, seine Kompetenzen. Diese Verschiedenheit der Schüler versuchen wir im Unterricht zu nutzen, so dass auch jedem eine Wertschätzung zu Teil wird. Das Teamteaching erlaubt uns verstärkt jeden Schüler in seinem individuellen Werdegang zu ermutigen. Zur Zeit stellen wir den Schülern eine ganze Menge Aktivitäten vor: von der Gartenarbeit, über Musik bis zum Theater. Ab dem zweiten Trimester können dann die Schüler für sich bestimmen, wer ein Spezialist in Sachen Musik werden möchte oder wer an vielem experimentieren möchte. Die Schüler gestalten ihren eigenen Weg.

CS.: Das ewige Herumhängen in den Bänken war mir in meiner Schulzeit ein Gräuel. Sitzen bei euch die Schüler nicht die ganze Unterrichtsdauer von 100 Minuten? Das wäre für mich der reinste Terror gewesen.

CN.: Wir würden uns schon wünschen den Schülern eine größere Bewegungsfreiheit zu zugestehen, doch kann dies nicht heißen, während den Schulstunden die große Party in den Fluren und auf den Toiletten zu feiern. Wir streben an, dass ein Schüler verantwortlich seine Zeit nutzt. Freiheit steht immer in einem Spannungsverhältnis zu Verantwortung.


Es erscheint sogar paradox, dass unsere Schüler nach Strafen, Prüfungen und Zensuren verlangen, wo doch jeder Schüler genau über diese Mittel stöhnt. Sie sagen, gebt uns Strafen sonst werden wir nichts lernen. Die alten, verinnerlichten Verhaltensweisen ver-
suchen auch in dieser neuen Situation sich durchzusetzen. Wir müssen die Geduld aufbringen und uns die Zeit nehmen, die Schüler in Richtung eines selbstbestimmten, verantwortlichen Handelns zu führen

CS.: Der Dreh- und Angelpunkt des NL ist Vertrauen, Vertrauen ins Konzept, Vertrauen in den Kollegen und die Schüler, doch auch Vertrauen der Schüler in ihre
Lehrer und ihre Mitschüler, dass einer für den anderen eine Bereicherung darstellen kann, in sich selbst.
Welche Sicherheiten gebt ihr euch, dass das Projekt nicht an seinen Kinderkrankheiten scheitert?

CN.: Schwierigkeiten sind uns willkommen. Wir versuchen die aufgetretenen Schwierigkeiten zu nutzen, um eine positive Entwicklung einzuleiten. An seinen Schwierigkeiten wird das Konzept sich weiterentwickeln. Wir brauchen also die Probleme, wie auch die Schüler Schulschwierigkeiten brauchen um in ihrer Schullaufbahn weiter zukommen. Probleme muss man nicht voreilig als Misserfolg abtun.