Offener Brief im Rahmen der Koalitionsverhandlungen

19.10.2023

Luxemburg, den 19. Oktober 2023

Offener Brief des SEW/OGBL, des Landesverbands und der AMELUX an die CSV und DP im Rahmen der Koalitionsverhandlungen

Sehr geehrte Vertreter.innen der CSV und der DP,

Hiermit erlauben wir es uns, Sie auf einige Kernforderungen des SEW/OGBL, des Landesverbands und der AMELUX in Bezug auf die Bildungspolitik aufmerksam zu machen und bitten Sie, diese in die Koalitionsverhandlungen einfließen zu lassen.

Da die Arbeitsgruppe zur Bildungspolitik bedauerlicherweise ohne Konsultation der betroffenen Berufsgruppenverbände stattfinden soll, möchten wir Sie bitten, zumindest auf diese Weise den Anliegen der Lehrkräfte Gehör zu schenken.

Auf folgende Punkte möchten wir Sie hinweisen:

  • Die Mehrsprachigkeit stellt für eine wachsende Anzahl von Schüler.innen ein unüberwindbares Hindernis dar. Statt den Sprachenunterricht vom Cycle 1 bis zur 1ère in seiner Gesamtheit kritisch zu analysieren und zu überdenken, wurde die Alphabetisierung auf Französisch als Pilotprojekt gestartet. In unseren Augen greift diese isolierte Maßnahme nicht tief genug. Das SEW/OGBL fordert ein kohärentes Konzept für den Sprachenunterricht, und das von der Kinderbetreuung an bis zum Sekundarabschluss. Eine Gewichtung der Sprachen sowie Flexibilisierung des Sprachenunterrichts sollen mehr Bildungschancen bieten.

  • Das SEW/OGBL warnt davor, schulische Parallelsysteme zu schaffen, um der Bildungsungerechtigkeit entgegenzuwirken. Aktuell existieren mit den öffentlichen Europaschulen und deren unterschiedlichen Sprachsektionen sowie mit der Primary School des Lycée Michel Lucius, die das britische System anbietet, und der Alphabetisierung auf Französisch und Deutsch in der Regelschule sechs unterschiedliche Schulsysteme von Grundschule an. In der Sekundarschule wird diese Zersplitterung noch weiter vorangetrieben. Das SEW/OGBL warnt vor den Konsequenzen dieser Zersplitterung der Bildungslandschaft, da sie vor allem sozial besser gestellten Familien zugutekommt und die Bildungsungerechtigkeiten eher noch verschärfen wird, anstatt sie abzumildern. Das SEW/OGBL fordert stattdessen, das aktuelle Modell der Mehrsprachigkeit der öffentlichen Regelschule auf Basis einer kritischen Analyse zu überdenken. Eine gemeinsame öffentliche Schule scheint uns für die soziale Kohäsion und Integration unabdingbar. Wir fordern deshalb, dass die öffentliche Regelschule gestärkt wird, so dass jeder Schüler, unabhängig von seiner Herkunft, dort seinen Platz findet.

  • Das SEW/OGBL fordert, dass sich das Luxemburger Bildungsministerium auf europäischer Ebene dazu verpflichtet, in den öffentlichen Europaschulen eine Sektion einzuführen, die an die spezifischen Bedürfnisse unseres Landes angepasst ist. Diese Sektion soll das Erlernen von Französisch, Deutsch und Luxemburgisch priorisieren und somit Übergänge («Passerelles») zum traditionellen Schulsystem ermöglichen. Somit würde man denjenigen Schüler.innen, die den Leistungsanforderungen der Europaschulen nicht gerecht werden können, eine maximale Auswahl an Ausbildungsmöglichkeiten bieten. Eine solche Sektion sollte dann auch an allen öffentlichen Europaschulen prioritär angeboten werden, um die Integration und den sozialen Zusammenhalt zu fördern.

  • Die nationale Gesetzgebung muss auch in den öffentlichen Europaschulen eingehalten werden. Viele Schulleitungen öffentlicher Europaschulen interpretieren ihren Status als akkreditierte Europaschule als Freifahrtschein, nationale Gesetze zu umgehen. Dieser Missbrauch reicht von unbezahlten Überstunden im Referendariat bis hin zum regelmäßigen Einsatz von nicht ausreichend diplomierten Lehrkräften im Sekundarunterricht. Anhand der Tatsache, dass Grund- und Sekundarschule der gleichen Schulleitung unterliegen, werden ebenfalls des Öfteren Lehrkräfte mit Masterabschluss für den Grundschulunterricht in der Lohnkategorie A2 eingestellt, um späterhin in den Sekundarschulen zu unterrichten, ohne dass ihre Lohnkategorie der geleisteten Arbeit angepasst wird.

  • Luxemburg hat mit dem Unterschreiben der entsprechenden UNO-Konvention den Weg der Inklusion eingeschlagen. Viele Lehrer.innen beklagen jedoch, dass sie der Heterogenität im Klassensaal nicht gerecht werden. Es fehlen die nötigen Ressourcen in den Schulen, der prozedurale Aufwand hingegen ist enorm. Als SEW/OGBL fordern wir eine Vereinfachung der Prozedur, so dass die Schüler.innen schneller in den Genuss von Forder- und Fördermaßnahmen kommen. Wir brauchen ein multidisziplinäres Team in den Schulen, um effizient und schnell reagieren zu können.

  • Der zweite Bildungsbericht hat nochmals deutlich aufgezeigt, dass die soziale Herkunft die Bildungschancen der Schüler.innen maßgeblich bestimmt. Keine der bisher getroffenen Maßnahmen konnte diesen Trend stoppen. Damit wir bessere Bildungschancen garantieren können, braucht es die nötigen Ressourcen. Als SEW/OGBL fordern wir, dass das «Contingent» nach oben angepasst wird, so dass wir der Heterogenität in den Klassen besser gerecht werden. Schulen mit niedrigem sozioökomischen Status müssen systematisch unterstützt werden, damit die soziale Schere nicht weiter auseinandergeht.

Das SEW/OGBL fordert zudem eine Überarbeitung der Reform des «Cycle inférieur» im ESG.

Die Promotionskriterien sollen verständlicher und dadurch auch für die Schüler.innen transparenter werden.

Auf nationaler Ebene fordern wir eine obligatorische externe Differenzierung für «Cours de base» und «Cours avancé».

Für «Cours de base» und «Cours avancé» müssen Mindestanforderungen definiert werden, die die Schüler.innen erreichen müssen, um weiterzukommen. Somit soll vermieden werden, dass die Schüler.innen von 7ème bis 5ème trotz enormer Lernrückstände automatisch versetzt werden, ihnen dann aber Ende 5ème durch genau diese mitgeschleppten Lernrückstände der Weg zu zahlreichen Sektionen versperrt wird.

Das SEW/OGBL spricht sich nach wie vor gegen die Verlängerung der Schulpflicht auf 18 Jahre aus. Den Ursachen eines vorzeitigen Schulabbruchs müssen bereits viel früher in der schulischen Laufbahn präventive Maßnahmen entgegengesetzt werden, wie z.B. mit einem nach oben angepassten «Contingent» in den Grundschulen und kleineren Klassen in den Sekundarschulen sowie mit dem Abbau administrativer Hürden in Bezug auf spezifische Fördermaßnahmen, die betroffene Schüler.innen oft zu spät erhalten.

  • Das SEW/OGBL fordert zudem kostenloses Arbeitsmaterial für die Schüler.innen der Berufsausbildung sowie kostenlose Kopien für die Schüler.innen des gesamten Sekundarunterrichts.

  • Die Berufsausbildung muss aufgewertet werden und der untere Zyklus des Sekundarunterrichts im ESG um ein Jahr verlängert werden, wie es schon seit langer Zeit im ESC der Fall ist. Das DAP soll eine nominelle Aufwertung erhalten und künftig «Première professionnelle» heißen und Zugang zum Meisterbrief gewähren, der auf das Niveau 6 des nationalen Qualifikationsrahmens angehoben werden soll. Die Lehrlingsentschädigungen sollen harmonisiert werden und vor dem PII mindestens 80% des unqualifizierten Mindestlohns entsprechen und nach dem PII mindestens 100% des unqualifizierten Mindestlohns entsprechen.

  • Die Lehrbeauftragten, die sogenannten «Chargés de cours», haben in der Vergangenheit eine wertvolle Arbeit geleistet. Trotzdem geraten viele von ihnen durch das Aneinanderreihen von befristeten Arbeitsverträgen (CDD) in eine prekäre Lage. Das SEW/OGBL fordert zusammen mit dem Landesverband, dass die Lehrbeauftragten nach dem zweiten befristeten Arbeitsvertrag, konform zum Arbeitsgesetz, automatisch einen unbefristeten Arbeitsvertrag (CDI) angeboten bekommen. Außerdem fordern wir, dass auch die Lehrbeauftragten in den Genuss der sogenannten «Altersdécharge» kommen. In der Grundschule sollen sie zudem die Möglichkeit bekommen, die Ausbildung zum Lehrer berufsbegleitend zu machen. Des Weiteren fordern wir einen besseren Kündigungsschutz für Lehrbeauftragte.

  • Für Sekundarschullehrer.innen in Teilzeit fordert das SEW/OGBL eine Überarbeitung der Mutationsprozedur. Lehrkräfte in Teilzeit sollen zukünftig die gleichen Rechte auf eine Versetzung haben wie Lehrkräfte in Vollzeit. Dies würde die Gleichberechtigung stärken, da vermehrt weibliche Lehrkräfte in Teilzeit arbeiten.

  • Der Korrekturkoeffizient von 36/52 auf Überstunden muss abgeschafft werden. Überstunden, die aufgrund von Lehrer.innenmangel das ganze Jahr über geleistet werden, müssen genauso bezahlt werden wie reguläre Schulstunden.

  • Die vorige Regierung hat In Aussicht gestellt, die Berufsausbildung auf Hochschulniveau in Luxemburg aufzubauen. Das SEW/OGBL begrüßt dies prinzipiell, will aber in die diesbezüglichen Gespräche integriert werden. Allgemein muss darauf geachtet werden, dass die zu entwickelnden Diplome sowohl national wie auch international anerkannt werden. Daneben gibt es auch beim BTS Verbesserungsmöglichkeiten, so spricht sich das SEW/OGBL für ein «régime concomitant» auch auf dieser Ebene aus.

  • Die letzten Jahre haben sich die Investitionen in Hochschule und Forschung gegenüber den vorigen Jahren verlangsamt, und liegen mittlerweile deutlich unter der Preisentwicklung. Das SEW/OGBL fordert, dass die Budgetdotation sich mindestens inflationsbereinigt entwickeln soll. Die bestehenden Vierjahrespläne der Universität und der öffentlichen Forschungszentren sind beim bevorstehenden «mid-term review» in diesem Sinne zu korrigieren.

  • Im letzten Koalitionsabkommen verkündete die vorige Regierung die Absicht, der Prekarität gerade bei jungen Forscher.innen entgegenzuwirken. Das Gegenteil ist passiert, der Prozentsatz von befristeten Verträgen gegenüber unbefristeten sogar noch angestiegen. Das SEW/OGBL fordert die neue Regierung auf, hier gegenzusteuern und eine Erhöhung des Anteils von unbefristeten Verträgen in den Vierjahresverträgen festzuschreiben.

  • Das SEW/OGBL fordert, dass ein Mechanismus eingeführt wird, um die Gehälterentwicklung an der Universität und den öffentlichen Forschungszentren wieder mit der im öffentlichen Dienst zu verbinden, dies am besten in Form von Globalverhandlungen für den gesamten öffentlichen Sektor, in der auch der OGBL als Mehrheitsgewerkschaft in mehreren betroffenen Sektoren eingebunden werden muss.

Wir bedanken uns für die Aufmerksamkeit, die Sie unserem Schreiben zukommen haben lassen.

Hochachtungsvoll,

Joëlle Damé

Vera Dockendorf

Marvin Caldarella Weis

Michel Reuter

Isabelle Bichler

Christian Turk

Frédéric Krier

Gilles Bestgen

Sébastien Donjon