Zum Artikel „Wenn Zahlen sprechen“

Zum Artikel „Wenn Zahlen sprechen“
(in: Revue, 37/2016, S.36-39, Heike Bucher)

In dem Beitrag geht es um absolut bahnbrechende Erkenntnisse dieser beiden Forscher und ihrer Forschungseinheit:
1) in Luxemburg entscheidet die Herkunft der Schüler über schulischen Erfolg oder Misserfolg
2) in Luxemburg gibt es eine hohe Zahl an Schulabbrechern (11%)
3) Luxemburg ist Weltmeister im Nicht-Versetzen von Schülern
„Vieles von dem, was wir hier zeigen, ist ja schon lange bekannt. Lehrer und das Ministerium sagen uns, dass sie das wissen.“ (A. Fischbach)
Immerhin! Ja, Entschuldigung, aber wozu dann dieses ganze wissenschaftliche Brimborium, anhand dessen man Schülern, Lehrern und Eltern mittels der „épreuves standardisées“ alle zwei Jahre nicht nur den Schulalltag durch das Testen unnötigerweise verkompliziert (und vermiest), sondern auch (gewollt oder ungewollt sei mal dahingestellt) Druck aufbaut: auf die Schüler, auf ihre Eltern, auf die Lehrer, auf die Schulen.
Denn schließlich erarbeiten zahlreiche fleißige Statistiker der ADQS2 der Uni Luxemburg aus den gesammelten Daten (Testergebnisse) einen detaillierten Bericht über Stärken und Schwächen der Klassen, ergo der Schulen.
Nun muss man sich fragen, ob dieser Bericht dazu beitragen will die festgestellten Mängel und Ungerechtigkeiten zu beheben, indem Alternativen aufgezeigt werden, welche bessere Resultate ermöglichen, oder ob es bloß darum geht Druck aufzubauen, um alle Akteure des Schulsystems (Schüler, Eltern, Lehrer, Inspektoren) gegeneinander auszuspielen und einem anhaltenden Konkurrenzkampf auszusetzen?
Verfolgt ein solcher Bericht das Ziel unser Schulsystem solidarischer, gerechter und kulturell bereichender für alle zu machen, oder geht es unterschwellig nicht etwa darum jedem Einzelnen nahezulegen, dass der Konkurrenzkampf aller gegen alle mit dem Eintritt in ndie Grundschule beginnt?
„Diese Tests sollen laut Fischbach nicht dazu dienen, herauszufinden, was die Schüler nicht können, sondern sich auf ihre Fähigkeiten und Kenntnisse konzentrieren.“ Aha. Man findet also nicht heraus, was die Schüler nicht können, sondern, welche Fähigkeiten und Kenntnisse sie haben... oder eben nicht haben...?!? Wo bitte schön liegt da der Unterschied?
Aus Druck entsteht so Gegendruck, Konkurrenzdenken, Frustration, Angst, schwieriges Arbeitsklima, Versagensängste... ein schlechter Nährboden für eine humanistische Herangehensweise an Bildung; ein exzellentes Mittel, neoliberales Gedankengut zunehmend auch in Bildungseinrichtungen zu säen und schließlich politisch zu implementieren. Bravo LUCET, ADQS & Co., ihr habt der Schule und ihren mannigfaltigen gesellschaftlichen und politischen Heraus- und Anforderungen gerade noch gefehlt.
Auch der Titel des Beitrags „Wenn Zahlen sprechen“ spricht Bände und erklärt die Perspektive dieser Wissenschaftler: hier sprechen (und zählen) nur nackte Zahlen: „Wenn etwas Schwarz auf Weiß existiert, kann man es nicht mehr ignorieren. Die Daten schaffen einen Zugzwang.“ (A. Fischbach)
Genau, sehr richtig erkannt, aber Zugzwang für wen, und wie wirkt sich dieser Zugzwang aus? Zugzwang für den Politiker... welcher sich unweigerlich auf die reformresistenten (?!?) Lehrer, die Schulen und demnach auf Schüler und Eltern negativ auswirkt. Wie blauäugig ist diese universitäre Elfenbeinturmmentalität eigentlich?
„Wir sind keine Politiker, wir liefern Daten, die bestimmte Sachverhalte belegen.“ (A. Fischbach) Ja, und dann?
Seid ihr euch bewusst, was eure belegten Sachverhalte auslösen? Den Finger empirisch belegt in eine Wunde legen, die schon längst bekannt ist, das schafft ihr vorbildlich. Dadurch entzündet sich die Wunde zusätzlich. Aber Rezepte für den Heilungsprozess dieser klaffenden Wunde finden, dafür fühlt ihr euch in eurer wissenschaftlichen Erhabenheit nicht zuständig.
Wäre es nicht auch Aufgabe der LUCET, nicht nur zu messen und festzustellen, sondern nach der Erstellung der Diagnose auch dafür zu sorgen, dass sich um den Patienten gekümmert wird, damit er, dank eines wissenschaftlich entwickelten Pharmakons, auch geheilt werden kann.
„Dafür hat es sich das zuständige Ministerium zur Aufgabe gemacht den eventuellen Missständen in Luxemburgs Schulsystem genauer auf den Grund zu gehen.“ Aha. Und dann?
Im neoliberalen Management spielt „Input VS Outcome“ eine zentrale Rolle. Dementsprechend werden Mittel und Ressourcen eingesetzt. Stimmt im Falle des wissenschaftlich gesteuerten „Inputs“ (Testinitis mittels „épreuves standardisées“) diese Gleichung? Wird dadurch das „Outcome“ (zB. Bildungsgerechtigkeit) besser? Steht hier die Empirie im Dienste der Pädagogik, der Bildungschancen, des Individuums, oder ist sie reiner Selbstzweck, gekoppelt an Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen?
Interessant wäre sicherlich in der nächsten Revue-Ausgabe ein Beitrag mit dem Titel „Wenn Schüler sprechen“, gefolgt von „Wenn Eltern sprechen“ und schließlich „Wenn Lehrer sprechen“. Denn dies sind die drei wichtigen Partner im Bildungswesen über die es sich sicherlich lohnen würde eine Fortsetzungsgeschichte zu schreiben. Aus einem humanistischen und praxisorientierten Blickwinkel, wo wieder der Mensch und nicht reines Datenmaterial im bildungspolitischen Zentrum stehen.
Ein möglicher Ansatz, der zur Verbesserung zwischen Theorie (Forschung an der Uni Luxemburg) und Praxis (Schulalltag) führen könnte, wäre möglicherweise eine –bis dato inexistente- interne Zusammenarbeit der diversen Forschungseinheiten der Universität Luxemburg:
vielleicht könnte Antoine Fischbach (LUCET) sich öfters mit Jean-Marie Weber (ECCS3) zusammensetzen, um folgende Aussagen zu beleuchten, die J-M Weber und R. Voynova passend zum Schulanfang im Beitrag „Qui a peur du décrochage scolaire? Brèves réflexions sur un mal à l’école.“ 4 veröffentlicht haben:
„Après de multiples réformes voulant révolutionner l’école, un certain pragmatisme sans grande vision domine l’école. L’école semble ne plus être une promesse, mais plutôt constituer un marché où on recherche un savoir utilitaire pour obtenir un diplôme. Les enseignants manifestent de plus en plus un sentiment de frustration face à ce contexte...“
...
„En effet l’élève n’est pas simplement un élève, mais un être humain dans sa complexité, inscrit dans son histoire propre, personnelle, familiale, amicale.“
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„L’école ainsi n’est pas uniquement une place pour entasser des connaissances. Elle a pour fonction d’aider les élèves à construire un cadre intellectuel qui permet de mettre en ordre ses connaissances, de comprendre ainsi le fonctionnement du monde. L’école est un terrain de construction de lien social, de demandes de reconnaissance de la place de sujet de chaque protagoniste.“
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„Les enseignants sont poussés par des impératifs du système scolaire, il y a un programme à respecter, des résultats attendus. Ils sont sous la pression de remplir leur mission qui souvent les pousse à oublier qu’ils ont des êtres humains en face d’eux avec leurs sentiments, ruptures, souffrances. Et ils sont des êtres humains également, avec leurs failles, humeurs, leurs soucis de la vie de tous les jours.“
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„Enseigner, c’est donc vivre un désir d’aider des jeunes à prendre du savoir, à faire des choix dans des savoirs de plus en plus larges, à apprendre et à comprendre.“
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Jede einzelne dieser ausgewählten Aussagen zeigt, dass man Schüler nicht auf reine Datenmaterial-Lieferanten reduzieren darf, dass es nicht darum geht, allgemein längst bekannte Gründe für Schulerfolg oder –Misserfolg Schwarz auf Weiß zu belegen, sondern, dass Forschung seinen Beitrag dazu leisten muss, dass auf hingewiesene Missstände reagiert wird.
• Forschung darf sich nicht darauf beschränken, Datenmaterial zu sammeln und zu veröffentlichen.
• Forschung ist kein Selbstzweck, sondern muss ein Mittel zum Zweck sein.
• Forschung hat eine gesellschaftliche Verantwortung und darf sich nicht hinter Zahlen verstecken.
• Forschung muss politisch fordernd und unterstützend für alle Beteiligten im Bildungswesen sein.
Ansonsten wird die Kluft zwischen Theorie und Praxis immer größer, bis der tiefe Graben unüberwindbar für beide Seiten scheint und sich die Fronten verhärten, so dass der vermeintliche wissenschaftliche Fortschritt zum pädagogischen Rückschritt wird.
1 Luxembourg Centre for Educational Testing
2 Agence pour le Développement de la Qualité Scolaire
3 Education, Culture, Cognition and Society
4 Luxemburger Wort, 17./18.9.2016, S.16 + 17