Expertenkult

Expertenkult
Rückblickend auf die Zeit vor der Grundschulreform im Jahre 2009 kann man behaupten, dass es in der Grundschule, mit wenigen Ausnahmen, 2 Arten von Akteuren gab: die Lehrer, die ihre ganze Tätigkeit auf die Arbeit im Klassensaal ausgerichtet hatten und die Riege der Schulinspektoren, die ihre Aufmerksamkeit mehr oder weniger auf die Schulqualität richteten und die Lehrer pädagogisch betreuen und unterstützen sollten.In der Regel oblag somit der Lehrerin oder dem Lehrer die gesamte Verantwortung über das Geschehen in der Klasse. Zusätzliche Betreuungs- und Unterstützungsmaßnahmen gab es in Form von Unterstützung in der Klasse.
Die Schulreform von 2009 beglückte unser Schulwesen mit einer neuen Kaste: den Experten. Das Expertentum gab es natürlich längst vorher; hauptsächlich in der Privatindustrie wo Myriaden von mehr oder weniger kundigen Experten in einem streng hierarchisierten System den gemeinen Arbeitern die Arbeit effizienter organisieren sollten und die Produktivität in bisher ungeahnte Höhen steigern sollten.
Mit dem Einzug einer neoliberalen Denkweise konnte dieses Phänomen dem Schulwesen natürlich nicht erspart werden. Das SEW hatte früh davor gewarnt, die doch begrenzten Mittel durch den Einsatz von soge- oder selbster-nannten Bildungsexperten zu verschwenden.
Um einen Mehrwert zu erzielen, müsste die Kunst der „Experten“ die Arbeit mit den Kindern in der Klasse qualitativ verbessern oder zumindest den Alltag der Lehrer erleichtern. Dem ist aber leider nicht der Fall. Man kann die neuen Schul- und Pädagogikexperten grob in zwei Kategorien einteilen: zum einen gibt es die Bücherexperten und zum anderen die zum Experten konvertierten Lehrer, die in der Regel einige Erfahrung aufweisen können oder gegebenenfalls eine höhere Sozialkompetenz im Umgang mit Vorgesetzten.
Bücherexperten findet man, sollte man sie aufsuchen, im Bildungsministerium oder an der Universität. Sie haben ihr Wissen aus Büchern und von Konferenzen, die sie in schöner Regelmäßigkeit aufsuchen, um ihr Expertentum zu bereichern. Böse Zungen sprechen gerne über Kongresstourismus. Viele Experten laden sich gegenseitig zu den Konferenzen ein, die sie selbst organisieren und steigern somit geschickt ihren Marktwert in der exquisiten Riege der internationalen Bildungsexperten.
Da diese Experten über genügend Zeit verfügen und national oder gar international sich einen Ruf erworben haben, sind sie gern gesehene Gäste der Presse. Sie stehen stets zur Verfügung, da sie sich nicht nach einem Schulstundenplan richten müssen.
Ihre Aussagen sind in der Regel durch Analysen und internationale Studien untermauert. Eine immer gern beanspruchte Studie ist die berühmt berüchtigte PISA Studie. Viele Lehrer wissen wie solche Studien in den Schulen ablaufen und die Resultate zustande kommen und halten kaum etwas von deren Aussagen. Sie werden mit ihrer Kritik in der Öffentlichkeit allerdings kaum Gehör finden.
Unsere Experten müssen nämlich nur ihre beiden Zauberwörter aussprechen, um jede Art von Kritik oder Zweifel aus der Welt zu schaffen: empirisch und wissenschaftlich. Welcher profane Lehrer könnte gegen diese Argumente mit seiner aus der alltäglichen Praxis gewonnen Erfahrung ankommen.
Viele schulpolitischen Reformen unter denen die Schüler, die Eltern und die Lehrerin und der Lehrer in der aktuellen Lage zu leiden haben, haben so ihren Weg in die Schulen und Schulgesetze gefunden. Die Warnungen der Gewerkschaften wurden ziemlich ausnahmslos in den Wind geschlagen. Man denke hier an den kompetenzorientierten Unterricht und die Bewertung in der Grundschule.
Dabei entstanden die meisten Studien nicht in einem politischen Vakuum. Organisationen wie OECD oder Bertelsmann Stiftung haben eine politische Agenda. Man muss allerdings immer wieder feststellen, dass besonders Vertreter der Universität den politischen Hintergrund der Studien und ihre wahren Ziele ausblenden und nicht sehen wollen mit dem Hinweis auf die akademische politische Neutralität.
Der Einfluss der Experten aus dem Bildungsministerium, die nicht alle eine pädagogische Bildung vorweisen können, wird jedes Jahr stärker. Die „Agence qualité“ hält den Schulen einen sogenannten Qualitätsnachweis vor, denen sie sich kaum entziehen können. Niemand scheint die Legitimität der standardisierten Tests in Frage stellen zu dürfen. Die wichtige Frage, ob unsere Schulen wirklich durch solche, doch fragwürdigen Tests, geleitet werden sollten, wird scheinbar nicht mehr gestellt.
„Teaching to the Test“ ist längst eine Realität, wobei in den Tests nur standardisierte Fragen Verwendung finden und damit ein großer Teil der Bildung ausgeklammert werden muss.
Somit werden anonyme Wissenschaftler, die niemandem eine politische Rechenschaft schuldig sind zu den wahren Herren über die Curricula der Schulen. Jede politische Instanz kann sich hinter einer oder mehreren Studien verstecken und die politische Verantwortung für die Schulentwicklung an Schulexperten weiterreichen.
Die Sachlage wurde natürlich vereinfacht und überspitzt karikiert, dennoch ist die aktuelle Entwicklung der Schulpolitik mehr als bedenklich. Es ist klar, dass sowohl die Ausbildung der Lehrer wie auch die Schulentwicklung auf einem akademischen Niveau stattfinden sollen. Man sollte dabei aber die Erfahrungen der Lehrer aus ihrer alltäglichen Praxis nicht komplett ausschließen. Nur wenn Theorie und Praxis in einer sinnvollen Symbiose zusammenarbeiten, kann dabei eine praxistaugliche Schulentwicklung stattfinden.
Daneben gibt es noch die Experten in den Schulen. Durch die ständige Ausweitung der Heterogenität der Schüler in den Klassen entstehen Situationen und Probleme, denen die Lehrerin oder der Lehrer kaum alleine Herr werden kann. So wurden in den vergangenen Jahren viele zusätzliche Stellen im Umfeld der Schulen geschaffen, um den Ansprüchen der Kinder gerecht zu werden. Wie zu befürchten, haben fast ausnahmslos alle „Experten“ es geschafft sich vom pädagogischen Alltag in den Schulen fern zu halten.
Man muss allerdings feststellen, dass diese Experten oft eine ganz erstaunliche Begabung zeigen, wenn es heißt sich der direkten Konfrontation mit den Kindern zu entziehen. Die Methoden sind altbekannt und bewährt. Man verbringe einen Teil der Zeit mit der Verwaltung von Akten der Kinder und die restliche Zeit in Besprechungen. Zum Anlegen einer Akte (vorher werden diese Experten auf keinen Fall in irgendeiner Form im Sinne des Schülers aktiv) wird auf die Lehrerin oder den Lehrer zurückgegriffen. Um eine Diagnose zu erstellen, müssen zuerst Fragebögen ausgefüllt oder besser Berichte erstellt werden. Diese bilden die Grundlage einer Akte und erst nachdem die Berichte mehrfach an den Lehrer zurückgesendet wurden, um in die richtige Form gebracht zu werden, wird die Expertengruppe aktiv. Nun kommt es zu Besprechungen, bei denen die Experten meist nur anhand der Akten ihr Urteil über die weitere Vorgehensweise fällen. Da es jedoch fast ausnahmslos alle Experten geschafft haben diesen Expertenrunden anzugehören, ist natürlich niemand verfügbar, der in der Klasse dem Kind eine konkrete Hilfestellung geben könnte. Daraufhin wird der Lehrerin oder dem Lehrer eine Fortbildung angeraten, damit er das „Problem“ selbst löse.
Da viele Lehrer diese Vorgehensweise in der Zwischenzeit durchschaut haben und sie die Einsicht gewonnen haben, dass ihre Energie und Zeit sinnvoller im Sinne der Kinder verwendet werden kann, verzichten sie von Vornherein auf die „Hilfe“ der Experten und helfen damit, zumindest in den Statistiken, die Probleme zu „lösen“.
Viele Experten im Umfeld der Schulen haben die Besprechung (Concertation) als ideales Betätigungsfeld erkoren. Auch wer keine Lust hat, sich anderwärtig sinnvoll einzubringen, wird die Belegschaft der Schulen gerne zu einer, möglichst obligatorischen, Besprechung einberufen. Dass die Mitteilung dieser Besprechung in einer kurzen Mail den Weg zu den Lehrern finden könnte, spielt dabei keine Rolle. Lehrerinnen und Lehrer vergeuden somit immer mehr ihrer kostbaren und beschränkten Zeit in Besprechungen und Versammlungen. Dem Experten beschert dies allerdings einen wichtigen Nachweis seiner Tätigkeit und den Beweis der Wichtigkeit seiner Funktion.
Es wäre wohl an der Zeit diesen „Expertenkult“ kritisch zu hinterfragen. In Zeiten in denen der „Contingent“ noch immer Jahr für Jahr den meisten Schulen die Zahl der zugestandenen wöchentlichen Schulstunden kürzt, sollten oder müssen diese Experten in den Klassen tätig werden, um den Kindern eine konkrete Hilfe zu leisten und die Lehrerinnen und Lehrer in ihrer immer komplizierter werden alltäglichen Arbeit unterstützend unter die Arme zu greifen. Überflüssige Verwaltungsarbeit bitte schnell abschaffen und die Erfahrungen der Lehrer sollten in schulpolitische Entscheidungen mit einfließen.
Aber bitte keine zusätzlichen Experten verpflichten um diese Ziele zu erreichen.

Patrick Arendt